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»angeschaute Werden«. Dieses bedeutet nach Hegel Übergehen vom Sein zum Nichts, bzw. vom Nichts zum Sein1. Werden ist sowohl Entstehen als Vergehen. Das Sein »geht über«, bzw. das Nichtsein. Was besagt das hinsichtlich der Zeit? Das Sein der Zeit ist das Jetzt; sofern aber jedes Jetzt »jetzt« auch schon nichtmehr-, bzw. je jetzt zuvor noch-nicht ist, kann es auch als Nichtsein gefaßt werden. Zeit ist das »angeschaute« Werden, das heißt der Übergang, der nicht gedacht wird, sondern in der Jetztfolge sich schlicht darbietet. Wenn das Wesen der Zeit als »angeschautes Werden« bestimmt wird, dann offenbart sich damit: die Zeit wird primär aus dem Jetzt verstanden und zwar so, wie es für das pure Anschauen vorfindlich ist.

Es bedarf keiner umständlichen Erörterung, um deutlich zu machen, daß Hegel mit seiner Zeitinterpretation sich ganz in der Richtung des vulgären Zeitverständnisses bewegt. Hegels Charakteristik der Zeit aus dem Jetzt setzt voraus, daß dieses in seiner vollen Struktur verdeckt und nivelliert bleibt, um als ein wenngleich »ideell« Vorhandenes angeschaut werden zu können.

Daß Hegel die Interpretation der Zeit aus der primären Orientierung am nivellierten Jetzt vollzieht, belegen folgende Sätze: »Das Jetzt hat ein ungeheures Recht, – es ‘ist’ nichts als das einzelne Jetzt, aber dies Ausschließende in seiner Aufspreizung ist aufgelöst, zerflossen, zerstäubt, indem ich es ausspreche«2. »Übrigens kommt es in der Natur, wo die Zeit Jetzt ist, nicht zum ‘bestehenden’ Unterschiede von jenen Dimensionen« (Vergangenheit und Zukunft)3. »Im positiven Sinne der Zeit kann man daher sagen: nur die Gegenwart ist, das Vor und Nach ist nicht; aber die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit und sie ist trächtig von der Zukunft. Die wahrhafte Gegenwart ist somit die Ewigkeit«4.

Wenn Hegel die Zeit das »angeschaute Werden« nennt, dann hat in ihr weder das Entstehen noch das Vergehen einen Vorrang. Gleichwohl charakterisiert er die Zeit gelegentlich als die »Abstraktion des Verzehrens« und bringt so die vulgäre Zeiterfahrung und Zeitauslegung auf die radikalste Formel5. Andererseits ist Hegel konsequent genug, um in der eigentlichen Zeitdefinition dem Verzehren und Vergehen keinen Vorrang zuzugestehen, wie er doch in der alltäglichen


1 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, I. Buch, 1. Abschn. 1. Kap. (ed. G. Lasson 1923), S. 66 ff.

2 Vgl. Encyklopädie a. a. O § 258, Zusatz.

3 a. a. O. § 259.

4 a. a. O § 259, Zusatz.

5 a. a. O. § 258, Zusatz.


Martin Heidegger - Sein und Zeit