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das heißt aus der Zeitlichkeit interpretiert werden. Es gilt zu zeigen, wie das Dasein als Zeitlichkeit ein Verhalten zeitigt, das sich in der Weise zur Zeit verhält, daß es ihr Rechnung trägt. Die bisherige Charakteristik der Zeitlichkeit ist daher nicht nur überhaupt unvollständig, insofern nicht alle Dimensionen des Phänomens beachtet wurden, sondern sie ist grundsätzlich lückenhaft, weil zur Zeitlichkeit selbst so etwas wie Weltzeit im strengen Sinne des existenzial-zeitlichen Begriffes von Welt gehört. Wie das möglich und warum es notwendig ist, soll zum Verständnis gebracht werden. Dadurch gewinnt die vulgär bekannte »Zeit«, »in der« Seiendes vorkommt, und in eins damit die Innerzeitigkeit dieses Seienden eine Erhellung.

Das alltägliche, sich Zeit nehmende Dasein findet die Zeit zunächst vor an dem innerweltlich begegnenden Zuhandenen und Vorhandenen. Die so »erfahrene« Zeit versteht es im Horizont des nächsten Seinsverständnisses, das heißt selbst als ein irgendwie Vorhandenes. Wie und warum es zur Ausbildung des vulgären Zeitbegriffes kommt, verlangt eine Aufklärung aus der zeitlich fundierten Seinsverfassung des zeitbesorgenden Daseins. Der vulgäre Zeitbegriff verdankt seine Herkunft einer Nivellierung der ursprünglichen Zeit. Der Nachweis dieses Ursprungs des vulgären Zeitbegriffes wird zur Rechtfertigung der früher vollzogenen Interpretation der Zeitlichkeit als ursprünglicher Zeit.

In der Ausbildung des vulgären Zeitbegriffes zeigt sich ein merkwürdiges Schwanken, ob der Zeit ein »subjektiver« oder »objektiver« Charakter zugesprochen werden soll. Wo man sie als an sich seiend auffaßt, wird sie gleichwohl vorzüglich der »Seele« zugewiesen. Und wo sie »bewußtseinsmäßigen« Charakter hat, fungiert sie doch »objektiv«. In der Zeitinterpretation Hegels sind beide Möglichkeiten zu einer gewissen Aufhebung gebracht. Hegel versucht, den Zusammenhang zwischen »Zeit« und »Geist« zu bestimmen, um hieraus verständlich zu machen, warum der Geist als Geschichte »in die Zeit fällt«. Im Resultat scheint die vorstehende Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins und der Zugehörigkeit der Weltzeit zu ihr mit Hegel übereinzukommen. Weil aber die vorliegende Zeitanalyse grundsätzlich sich schon im Ansatz von Hegel unterscheidet und mit ihrem Ziel, das heißt der fundamentalontologischen Absicht gerade gegensätzlich zu ihm orientiert ist, kann eine kurze Darstellung der Hegelschen Auffassung der Beziehung zwischen Zeit und Geist dazu dienen, die existenzial-ontologische Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins, der Weltzeit und des Ursprungs des vulgären Zeitbegriffes indirekt zu verdeutlichen und vorläufig abzuschließen.


Martin Heidegger - Sein und Zeit