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monumentalische ist die eigentliche Historie deshalb »antiquarisch«. Das Dasein zeitigt sich in der Einheit von Zukunft und Gewesenheit als Gegenwart. Diese erschließt, und zwar als Augenblick, das Heute eigentlich. Sofern dieses aber aus dem zukünftig-wiederholenden Verstehen einer ergriffenen Existenzmöglichkeit ausgelegt ist, wird die eigentliche Historie zur Entgegenwärtigung des Heute, das ist zum leidenden Sichlösen von der verfallenden Öffentlichkeit des Heute. Die monumentalisch-antiquarische Historie ist als eigentliche notwendig Kritik der »Gegenwart«. Die eigentliche Geschichtlichkeit ist das Fundament der möglichen Einheit der drei Weisen der Historie. Der Grund des Fundaments der eigentlichen Historie aber ist die Zeitlichkeit als der existenziale Seinssinn der Sorge.

Die konkrete Darstellung des existenzial-geschichtlichen Ursprungs der Historie vollzieht sich in der Analyse der Thematisierung, die diese Wissenschaft konstituiert. Die historische Thematisierung hat ihr Hauptstück in der Ausbildung der hermeneutischen Situation, die sich mit dem Entschluß des geschichtlich existierenden Daseins zur wiederholenden Erschließung des dagewesenen öffnet. Aus der eigentlichen Erschlossenheit (»Wahrheit«) der geschichtlichen Existenz ist die Möglichkeit und die Struktur der historischen Wahrheit zu exponieren. Weil aber die Grundbegriffe der historischen Wissenschaften, sie mögen deren Objekte oder ihre Behandlungsart betreffen, Existenzbegriffe sind, hat die Theorie der Geisteswissenschaften eine thematisch existenziale Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung. Sie ist das ständige Ziel, dem sich die Forschungsarbeit W. Diltheys näher zu bringen sucht und das durch die Ideen des Grafen Yorck von Wartenburg eindringlicher erhellt wird.



§ 77. Der Zusammenhang der vorstehenden Exposition des Problems der Geschichtlichkeit mit den Forschungen W. Diltheys

und den Ideen des Grafen Yorck


Die vollzogene Auseinanderlegung des Problems der Geschichte ist aus der Aneignung der Arbeit Diltheys erwachsen. Sie wurde bestätigt und zugleich gefestigt durch die Thesen des Grafen Yorck, die sich verstreut in seinen Briefen an Dilthey finden1.

Das heute vielfach noch verbreitete Bild Diltheys ist folgendes: der »feinsinnige« Ausleger der Geistes-, im besonderen Literaturgeschichte,



1 Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877-1897, Halle a. d. S. 1923.


Martin Heidegger - Sein und Zeit