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im Grunde nichts anderes gemeint ist als die Zeitlichkeit, diese aber das Sein des Daseins ermöglicht, kann die zureichende begriffliche Umgrenzung der Alltäglichkeit erst im Rahmen der grundsätzlichen Erörterung des Sinnes von Sein überhaupt und seiner möglichen Abwandlungen gelingen.


Fünftes Kapitel Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit


§ 72. Die existenzial-ontologische Exposition des Problems der Geschichte


Alle Bemühungen der existenzialen Analytik gelten dem einen Ziel, eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zu finden. Die Ausarbeitung dieser Frage verlangt eine Umgrenzung des Phänomens, in dem selbst so etwas wie Sein zugänglich wird, des Seinsverständnisses. Dieses aber gehört zur Seinsverfassung des Daseins. Erst wenn dieses Seiende zuvor hinreichend ursprünglich interpretiert ist, kann das in seine Seinsverfassung eingeschlossene Seinsverständnis selbst begriffen und auf diesem Grunde die Frage nach dem in ihm verstandenen Sein und nach den »Voraussetzungen« dieses Verstehens gestellt werden.

Wenngleich im einzelnen viele Strukturen des Daseins noch im Dunkel liegen, so scheint doch mit der Aufhellung der Zeitlichkeit als ursprünglicher Bedingung der Möglichkeit der Sorge die geforderte ursprüngliche Interpretation des Daseins erreicht zu sein. Die Zeitlichkeit wurde im Hinblick auf das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins herausgestellt. Die zeitliche Interpretation der Sorge bewährte sich sodann durch den Nachweis der Zeitlichkeit des besorgenden In-der-Welt-seins. Die Analyse des eigentlichen Ganzseinkönnens enthüllte den in der Sorge verwurzelten, gleichursprünglichen Zusammenhang von Tod, Schuld und Gewissen. Kann das Dasein noch ursprünglicher verstanden werden als im Entwurf seiner eigentlichen Existenz?

Ob wir gleich bislang keine Möglichkeit eines radikaleren Ansatzes der existenzialen Analytik sehen, so erwacht doch gerade mit Rücksicht auf die vorstehende Erörterung des ontologischen Sinnes der Alltäglichkeit ein schweres Bedenken: ist denn in der Tat das Ganze des Daseins hinsichtlich seines eigentlichen Ganzseins in die Vorhabe der existenzialen Analyse gebracht? Die auf die Ganzheit des Daseins bezogene Fragestellung mag ihre genuine ontologische Eindeutigkeit besitzen. Die Frage selbst mag sogar mit Rücksicht auf das Sein zum


Martin Heidegger - Sein und Zeit