336

        
                    a) Die Zeitlichkeit des Verstehens1
        Mit dem Terminus Verstehen meinen wir ein fundamentales
        Existenzial; weder eine bestimmte Art von Erkennen, unterschieden
        etwa von Erklären und Begreifen, noch überhaupt ein Erkennen
        im Sinne des thematischen Erfassens. Wohl aber konstituiert
        das Verstehen das Sein des Da dergestalt, daß ein Dasein auf dem
        Grunde des Verstehens die verschiedenen Möglichkeiten der
        Sicht, des Sichumsehens, des Nurhinsehens, existierend ausbilden
        kann. Alles Erklären wurzelt als verstehendes Entdecken des
        Unverständlichen im primären Verstehen des Daseins.
        Ursprünglich existenzial gefaßt, besagt Verstehen: entwerfendsein
        zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert.
        Das Verstehen erschließt das eigene Seinkönnen dergestalt, daß
        das Dasein verstehend je irgendwie weiß, woran es mit ihm selbst
        ist. Dieses »Wissen« aber ist kein Entdeckthaben einer Tatsache,
        sondern das Sichhalten in einer existenziellen Möglichkeit. Das
        entsprechende Nichtwissen besteht nicht in einem Unterbleiben
        des Verstehens, sondern muß als defizienter Modus der Entworfenheit
        des Seinkönnens gelten. Die Existenz kann fragwürdig
        sein. Damit das »In-Frage-stehen« möglich wird, bedarf es einer
        Erschlossenheit. Dem entwerfenden Sichverstehen in einer existenziellen
        Möglichkeit liegt die Zukunft zugrunde als Auf-sichzukommen
        aus der jeweiligen Möglichkeit, als welche je das
        Dasein existiert. Zukunft ermöglicht ontologisch ein Seiendes,
        das so ist, daß es verstehend in seinem Seinkönnen existiert. Das
        im Grunde zukünftige Entwerfen erfaßt primär nicht die entworfene
        Möglichkeit thematisch in einem Meinen, sondern wirft sich
        in sie als Möglichkeit. Verstehend ist das Dasein je, wie es sein
        kann. Als ursprüngliches und eigentliches Existieren ergab sich
        die Entschlossenheit. Zunächst und zumeist freilich bleibt das
        Dasein unentschlossen, das heißt in seinem eigensten Seinkönnen,
        dahin es sich je nur in der Vereinzelung bringt, verschlossen.
        Darin liegt: die Zeitlichkeit zeitigt sich nicht ständig aus der
        eigentlichen Zukunft. Diese Unständigkeit besagt jedoch nicht,
        die Zeitlichkeit ermangele zuweilen der Zukunft, sondern: die
        Zeitigung dieser ist abwandelbar.
        Für die terminologische Kennzeichnung der eigentlichen
        Zukunft halten wir den Ausdruck Vorlaufen fest. Er zeigt an, daß
        das Dasein, eigentlich existierend, sich als eigenstes Seinkönnen
        auf sich zu-

1 Vgl. § 31, S. 142 ff.

Martin Heidegger - Sein und Zeit