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wird: daß der Ruf das Dasein als »schuldig« anspricht oder, wie im warnenden Gewissen, auf ein mögliches »schuldig« verweist oder als »gutes« Gewissen ein »keiner Schuld bewußt« bestätigt? Wenn nur nicht dieses »übereinstimmend« erfahrene »schuldig« in den Gewissenserfahrungen und -auslegungen so ganz verschieden bestimmt wäre! Und selbst wenn der Sinn dieses »schuldig« sich einstimmig fassen ließe, der existenziale Begriff dieses Schuldigseins liegt im Dunkeln. Wenn jedoch das Dasein sich selbst als »schuldig« anspricht, woher soll die Idee der Schuld anders geschöpft werden, es sei denn aus der Interpretation des Seins des Daseins? Doch erneut steht die Frage auf: wer sagt, wie wir schuldig sind und was Schuld bedeutet? Die Idee der Schuld kann nicht willkürlich ausgedacht und dem Dasein aufgezwungen werden. Wenn aber überhaupt ein Verständnis des Wesens der Schuld möglich ist, dann muß diese Möglichkeit im Dasein vorgezeichnet sein. Wie sollen wir die Spur finden, die zur Enthüllung des Phänomens führen kann? Alle ontologischen Untersuchungen von Phänomenen wie Schuld, Gewissen, Tod müssen in dem ansetzen, was die alltägliche Daseinsauslegung darüber »sagt«. In der verfallenden Seinsart des Daseins liegt zugleich, daß seine Auslegung zumeist uneigentlich »orientiert« ist und das »Wesen« nicht trifft, weil ihm die ursprünglich angemessene ontologische Fragestellung fremd bleibt. Aber in jedem Fehlsehen liegt mitenthüllt eine Anweisung auf die ursprüngliche »Idee« des Phänomens. Woher nehmen wir aber das Kriterium für den ursprünglichen existenzialen Sinn des »schuldig«? Daraus, daß dieses »schuldig« als Prädikat des »ich bin« auftaucht. Liegt etwa, was in uneigentlicher Auslegung als »Schuld« verstanden wird, im Sein des Daseins als solchem, so zwar, daß es schon, sofern es je faktisch existiert, auch schuldig ist?

Die Berufung auf das einstimmig gehörte „schuldig" ist daher noch nicht die Antwort auf die Frage nach dem existenzialen Sinn des im Ruf Gerufenen. Dieses muß erst zu seinem Begriff kommen, um verständlich machen zu können, was das gerufene »schuldig« meint, warum und wie es durch die alltägliche Auslegung in seiner Bedeutung verkehrt wird.

Die alltägliche Verständigkeit nimmt das »Schuldigsein« zunächst im Sinne von »schulden«, »bei einem etwas am Brett haben«. Man soll dem Andern etwas zurückgeben, worauf er Anspruch hat. Dieses »Schuldigsein« als »Schulden haben« ist eine Weise des Mitseins mit Anderen im Felde des Besorgens als Beschaffen, Beibringen. Modi solchen Besorgens sind auch Entziehen, Entleihen, Vorenthalten, Nehmen, Rauben, das heißt dem Besitzanspruch der Anderen in irgend-


Martin Heidegger - Sein und Zeit