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Vor der Beantwortung dieser Fragen gilt es nachzuforschen, inwieweit überhaupt und in welcher Weise das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis gibt von einer möglichen Eigentlichkeit seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht nur als existenziell mögliche bekundet, sondern von ihm selbst fordert.

Die schwebende Frage nach einem eigentlichen Ganzsein des Daseins und dessen existenzialer Verfassung wird erst dann auf probehaltigen phänomenalen Boden gebracht sein, wenn sie sich an eine vom Dasein selbst bezeugte mögliche Eigentlichkeit seines Seins halten kann. Gelingt es, eine solche Bezeugung und das in ihr Bezeugte phänomenologisch aufzudecken, dann erhebt sich erneut das Problem, ob das bislang nur in seiner ontologischen Möglichkeit entworfene Vorlaufen zum Tode mit dem bezeugten eigentlichen Seinkönnen in einem wesenhaften Zusammenhang steht.


Zweites Kapitel

Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens und die Entschlossenheit

§ 54. Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen

existenziellen Möglichkeit


Gesucht ist ein eigentliches Seinkönnen des Daseins, das von diesem selbst in seiner existenziellen Möglichkeit bezeugt wird. Zuvor muß diese Bezeugung selbst sich finden lassen. Sie wird, wenn sie dem Dasein es selbst in seiner möglichen eigentlichen Existenz »zu verstehen geben« soll, im Sein des Daseins ihre Wurzel haben. Der phänomenologische Aufweis einer solchen Bezeugung schließt daher den Nachweis ihres Ursprungs aus der Seinsverfassung des Daseins in sich.

Die Bezeugung soll ein eigentliches Selbstseinkönnen zu verstehen geben. Mit dem Ausdruck »Selbst« antworteten wir auf die Frage nach dem Wer des Daseins1. Die Selbstheit des Daseins wurde formal bestimmt als eine Weise zu existieren, das heißt nicht als ein vorhandenes Seiendes. Das Wer des Daseins bin zumeist nicht ich selbst, sondern das Man-selbst. Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man, die existenzial zu umgrenzen ist2. Was liegt in dieser Modifikation, und welches sind die ontologischen Bedingungen ihrer Möglichkeit?


1 Vgl. § 25, S. 114 ff.

2 Vgl. § 27, S. 126 ff., bes. S. 130.


Martin Heidegger - Sein und Zeit