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IV. Der Sprung

        sehen im Blickkreis des Weges der Leitfrage, nur anzeigend 
        gesehen; die Zeit als Wahrheit des Seyns; dieses erst anfänglich 
        erfahren als Anwesung in den verschiedenen Gestalten.
        »Sein und Zeit« ist der Übergang zum Sprung (Fragen der 
        Grundfrage). Solange man daher diesen Versuch als »Existenzphilosophie« 
        sich zurechtlegt, bleibt alles unbegriffen.
        Die »Zeit« als Temporalitat, gemeint die ursprüngliche Einheit 
        der sich lichtend-verbergenden Entrückung, gibt den nachsten 
        Grund zur Gründung des Da-seins. Mit dieser Ansetzung 
        soll nicht etwa die bisherige Form des Antwortens festgehalten, 
        ja nicht einmal ersetzt werden, also statt der »Ideen« bezw, 
        ihrer Mißbildung im 19. Jahrhundert, statt der »Werte« 
        andere »Werte« oder gar keine Werte mehr gesetzt sein. Vielmehr 
        hat »Zeit« hier und dementsprechend alles, was unter den Titel 
        »Existenz« gefaßt ist, eine vollig andersartige Bedeutung, 
        namlich die der Gründung der offenen Stätte der Augenblicklichkeit 
        für ein geschichtliches Sein des Menschen. Weil alle 
        Entscheidungen bislang im »Ideen« - und »Ideal« - bereich 
        (»Weltanschauungen«, Kulturideen und dgl.) keine Entscheidungen 
        mehr sind, weil sie ihren Entscheidungsraum gar nicht 
        mehr in Frage stellen und noch weniger die Wahrheit selbst 
        als Wahrheit des Seyns, deshalb muß allererst die Besinnung 
        auf die Gründung eines Entscheidungsraumes gelenkt, d. h. 
        zuvor muB die Not der Notlosigkeit, die Seinsverlassenheit, 
        erfahren werden. Wo aber im bisherigen Sinne, wenngleich mit 
        äußerlichen Anleihen bei der »Existenzphilosophie«, alles im 
        Bereich von »Kultur« und »Idee« und »Wert« und »Sinn« verbleibt, 
        da wird, seinsgeschichtlich und aus dem anfänglichen 
        Denken her gesehen, die Seinsverlassenheit erneut befestigt 
        und die Notlosigkeit gleichsam zum Grundsatz erhoben.
        Nichts ist hier geahnt von der Unvergleichlichkeit der Grundstellung 
        im anderen Anfang. Daß der Sprung, hier als Frage 
        nach dem Wesen der Wahrheit selbst, allererst den Menschen 
        in den Spielraum des Anfalls und des Ausbleibs der Ankunft 
        und Flucht der Götter bringt. Nur dieses kann der andere Anfang

Martin Heidegger (GA 65) Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)