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91. Vom ersten zum anderen Anfang


Dieser Titel ist aus einem klaren Wissen um die Aufgabe gesetzt: nicht mehr Seiendes und Seiendheit, sondern Sein; nicht mehr »denken«, sondern »Zeit«; nicht mehr Denken zuvor, sondem das Seyn. »Zeit« als Nennung der »Wahrheit« des Seins, und all dieses als Aufgabe, als »unterwegs«; nicht als »Lehre« und Dogmatik.

Jetzt ist die leitende Grundstellung der abendländischen Metaphysik Seiendheit und Denken, das »Denken« - ratio - Vernunft als Leitfaden und Vorgriff der Auslegung der Seiendheit, in Frage gestellt, aber keineswegs nur so, daß Denken durch »Zeit« ersetzt würde und alles nur »zeitlicher« und existenzieller gemeint und sonst beim alten bliebe, sondern jetzt ist jenes zur Frage geworden, was im ersten Anfang nicht Frage werden konnte, die Wahrheit selbst.

Jetzt ist und wird alles anders. Die Metaphysik ist unmöglich geworden. Denn die Wahrheit des Seyns und die Wesung des Seyns ist das Erste, nicht das wohinaus der Überstieg erfolgen soll.

Aber jetzt gilt auch nicht etwa nur die Umkehrung der bisherigen Metaphysik, sondem mit der ursprünglicheren Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis ist der Bezug zum Seienden ein anderer (nicht mehr der der ύπὐθεσις und der »Bedingung der Möglichkeit« - des χοινόν und ύποχείμενον).

Das Seyn west als Ereignis der Dagründung und bestimmt selbst die Wahrheit des Wesens aus der Wesung der Wahrheit neu.

Der andere Anfang ist der das Seyn verwandelnde Einsprung in seine ursprünglichere Wahrheit.

Das abendländische Denken in der Leitfrage setzt gemäß seinem Anfang den Vorrang des Seienden vor dem Sein; das »Apriori« ist nur die Verschleierung der Nachträglichkeit des Seyns, die walten muß, sofern im unmittelbar ersten, vernehmend-sammelnden Zugehen auf das Seiende das Seyn eröffnet wird (vgl. in »Der Sprung«: das Sein und das Apriori).


Martin Heidegger (GA 65) Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)

Contributions to Philosophy (of the Event) p. 143