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§ 2. Hermeneutik im traditionellen Begriff

Die Schrift wird aber weder von Aristoteles noch von seinen unmittelbaren Nachfolgern im Peripatos unter diesem Titel eingeführt. Sie ist als »unfertiger Entwurf« und »titellos« aus dem Nachlaß den Schülern des Aristoteles überliefert worden. Zur Zeit des Andronikos von Rhodos war der Titel schon gebräuchlich. H. Meier, der die Echtheit der Schrift mit guten Gründen sichert, setzt vermutungsweise das früheste Aufkommen des Titels in die erste Generation nach Theophrast und Eudemus10.

Im vorliegenden Zusammenhang ist das Wort als Titel der bestimmten Untersuchung des Aristoteles lediglich für seine Bedeutungsgeschichte wichtig. Die Leistung der Rede ist es, etwas als offen da, als vorhanden seiend zugänglich machen. Als solcher hat der λόγος die ausgezeichnete Leistungsmöglichkeit des ἀληθεύειν (vordem Verborgenes, Verdecktes als unverborgen, offen da, verfügbar machen). Weil die Schrift davon handelt, heißt sie mit Recht περὶ ἑρμηνείας.

Bei den Byzantinern hat sich diese Bedeutung des ἑρμηνεύειν verallgemeinert und entspricht da unserem »bedeuten«; ein Wort, Wortgefüge meint etwas, »hat eine Bedeutung«. (Von da Platonismus der Bedeutung.)

Philo bezeichnet den Moses als ἑρμηνεύς θεοῦ11 (Künder des Willens Gottes).

Aristeas: τὰ τῶν Ἰουδαίων γράμματα »ἑρμηνείας προσδεῖται«12 (die Schriften der Juden bedürfen einer Ubersetzung, Auslegung). Ubersetzen: was in fremder Sprache vorliegt, in der eigenen und für diese zugänglich machen. In den christlichen Kirchen besagt dann ἑρμηνεία soviel wie Commentar (enarratio); ἑρμηνεία εἰς τὴν ὀκτάτευχον; kommentieren, auslegen: dem nachgehen, was in einer Schrift eigentlich gemeint ist, und so das


10 Die Echtheit der Aristotelischen Hermeneutik. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 13, NF. 6 (1900), S. 23-72.

11 De vita Mosis III, 23 (II, 188). Opera IV, ed. L. Cohn. Berlin 1902, S. 244.

12 Ad Philocratcm epistula, ed. P. Wcndland. Leipzig 1890, S. 4, Z. 3.


Martin Heidegger (GA 63) Ontologie: Hermeneutik der Faktizität