Ethica Nicomachea VI1


Die Interpretation dieser Abhandlung macht unter vorläufigem Absehen von der spezifisch ethischen Problematik2 die ›dianoetischen Tugenden‹ verständlich als die Weisen des Verfügens über die Vollzugsmöglichkeit echter Seinsverwalzrung. Σοφία (eigentliches, hinsehendes Verstehen) und φρόνησις (fürsorgende Umsicht) werden interpretiert als die eigentlichen Vollzugsweisen des νοῦς: des reinen Vernehmens als solchen. In ihnen wird zugänglich und kommt zu Aneignung und Verwahrung ein je ihrem Vernehmenscharakter entsprechendes Seiendes. Das besagt aber: mit der Interpretation dieser Phänomene ist die Möglichkeit gegeben, das in ihnen jeweils in Verwahrung gebrachte Seiende im Wie seines Vernommenseins und damit hinsichtlich seines genuinen Seinscharakters zu bestimmen und auszugrenzen. So ist der Zusammenhang dieser Interpretation der ›Tugenden‹ mit der angesetzten ontologischen Problematik deutlich. Der prinzipielle phänomenale Struktur-Unterschied der zwei Grundweisen des Vernehmens läßt die je entsprechenden verschiedenen Seinsregionen sichtbar werden. "Ἔστω δὴ οἷς ἀληθεύει ἡ ψυχὴ τῷ καταφάναι ἢ ἀποφάναι, πέντε τὸν ἀριθμόν· ταῦτα δ᾽ ἐστὶ τέχνη ἐπιστήμη φρόνησις σοφία νοῦς· ὑπολήψει γὰρ καὶ δόξῃ ἐνδέχεται διαψεύδεσθαι (1139 b 15-18).3 »Es seien also der Weisen, in denen die Seele Seiendes als unverhülltes in Verwahrung bringt und nimmt — und das in der Vollzugsart des zu- und absprechenden Explizierens —, fünf angesetzt: verrichtend-herstellendes Verfahren, hinsehend-besprechend-ausweisendes Bestimmen, fürsorgliches


1 [Siehe Anhang III ß, Beilagen, S. 401 ff.]

2 [Handschriftlicher Zusatz:] Nachklang alter Einstellung!

3 [Nach 1-leideggers Handexemplar der Ethica Nicomachea (ed. Susemihl, Leipzig 1882), heißt es dagegen καταφάναι ἢ ἀποφάναι. Heideggers Ersetzung von »oder« (ἢ) durch »und« (καὶ) zeigt sich auch in der anschließenden Übersetzung: »Vollzugsart des zu-und absprechenden Explizierens«.]


Martin Heidegger (GA 62) Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik