252                         Anhang B
        Der Grundcharakter des faktischen Lebens, daß ich mich im 
        Erfahren selbst ausgedrückt finde, wird deutlicher sichtbar, 
        wenn sich das faktische Leben seiner selbst erinnert. In der 
        Erinnerung hebt sich die Artikulation des Lebens und seiner 
        Bezüge auf mich selbst, und dadurch wird der Charakter des 
        Erfahrens sichtig. In der Erinnerung an das Erlebte läßt sich, 
        viel unmittelbarer als im damaligen Erleben selbst, verfolgen, 
        was in der Weise des Erlebthabens beschlossen ist, wie das 
        Erinnerte seinen ganz spezifischen Charakter hat, in dem es 
        mir vertraut ist. —
        20. Die Rolle der Erinnerung — Die Geschichte als Leiterfahrung
der phänomenologischen Forschung
        Der Psychologe wird sagen, daß seien alles vage Begriffe; es 
        gäbe nicht Präzises wie »Erinnerungsrückstände, Einprägungsund 
        Reproduktionsziele« etc. Aber wir lassen uns nichts von 
        ihm hereinreden. Wir haben andere Maßstäbe von Strenge als 
        er. Man darf sich aber auch nicht die Aufgabe der phänomenologischen 
        Lebenserforschung erleichtern, indem man sagt: Jedes 
        Erlebnis ist Erlebnis eines Ich. Also bin ich bei jedem Erlebnis 
        eo ipso dabei. Denn wir haben ja noch gar keinen Begriff 
        von einem »Erlebnis«. Diesen wollen wir gerade erst radikal 
        bestimmen.
        Hier ist die Motivstelle dafür, daß alles phänomenologische 
        Verstehen sich sein Material aus dem vollen historischen Leben 
        vorgeben lassen muß. Das wirkliche Leben und die Geschichte 
        ist der Leitfaden oder besser die Leiterfahrung für die 
        phänomenologische Forschung. Geschichte ist hier nicht verstanden 
        als historische Wissenschaft, sondern als lebendiges Miterleben, 
        als Vertrautsein des Lebens mit sich selbst und seiner 
        Fülle. — Hier liegen die Wurzeln der tiefen Probleme der 
        Geschichtswissenschaft und -philosophie. (Von hier hätte auch 
        eine tiefgreifende Kritik von Spenglers »Untergang des Abendlandes«

Martin Heidegger (GA 58) Grundprobleme der Phänomenologie