§25. Das Grundphärioinen der Kenntnisnahme          111
    
       
        keiner inhaltlichen oder regionalen oder noch radikalerer 
        Abhebung oder Erweise bedarf, um bestimmt ausformbare 
        Lebenswelten faktisch doch zu erfahren, aber nicht im >Als< der 
        abhebenden theoretischen Isolierung oder gar wertmäßigen 
        Rangordnung. Wir fragen nun: Läßt die unabgehobene faktische 
        Lebenserfahrung irgendeine Modifikation ihres Stils zu, 
        so daß aus dieser Modifikation Möglichkeiten besonderer 
        Erfahrungsformen sich ergeben?
        Ich kann im faktischen Erfahren, im Erwartungszusammenhang, 
        den vollen Motivationsgeweben, unreflektiert lebend 
        doch besinnlich erfahren, dabei nachdenklich sein. Das 
        Erfahrene kann ich mir erinnerungsmäßig zurückrufen und 
        zwar in der Tendenz, erinnernd es wieder faktisch 
        durchzukosten. Erfahrenes kann auf mir lasten, mich beschäftigen, 
        oder ich kann im Erfahren interessierend gleichsam zur 
        Kenntnis nehmen, mir besonders merken; ich kann Erfahrenes 
        >erzählen< und zwar in faktischen Lebenszügen.1 Man 
        kommt im Gespräch auf gemeinsam Durchlebtes und erzählt 
        sich gegenseitig alles wieder durch. Man hält sich nicht 
        gegenseitig Referate, und es ist, ganz abgesehen von dem 
        Wascharakter der Gegenständlichkeit, entfernt anders, als wenn 
        ich in der Zoologie beschreiben soll, was ich im Mikroskop 
        sehe.
        Es werden faktisch erlebte Bedeutsamkeitszusammenhänge 
        zwar expliziert, aber doch in ihrer lebendigen Faktizität dabei 
        belassen. Die Explikation ist die kenntnisnehmend erzählende, 
        aber im Grundstil des faktischen Erfahrens, des vollen 
        Mitgehens mit dem Leben.2
        1 Bericht des Boten in Sophokles' »Antigone« über Antigones Frevel!
        2 Bedeutsamkeitszusammenhänge einmalig, unwiederholbar; Erwartungs-
        horizont wächst, ist immer ein neuer; es begegnet im Erfahren nie ein Gleiches; 
        wo das so aussieht, ist bereits verdinglichende Objektivierung im Spiel.
        Umwelt — das so Umgrenzte immer wieder lebendig erfahrbar, weil das 
        Leben >mächtiger< ist als das theoretische Erkennen und seine Begriffe! Keine 
        Begriffe, sondern bedeutungsmäßig Sinn nach!

Martin Heidegger (GA 58) Grundprobleme der Phänomenologie