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§ 6. Die abwesende Gegenwart des Λόγος

zusammen, weil sie in ihrem verborgenen Wesen Eins sind: Eins und das Selbe mit ›Leben‹ und φύσις. Die Seele, das Beseelende, ist insofern das Wesen des Lebendigen, als ›Beseelung‹ eben dies meint, daß durch sie ein Seiendes zu solchem Sein gelangt und in solchem Sein ruht, das als ein Aufgehen ins Offene west und also wesend das Offene und im Offenen Begegnende zu sich einholt. Nun sind wir es allerdings aus langer überlieferung des Denkens gewohnt und überdies aus noch anderen Gründen auch stets eilig dazu geneigt, überall dort, wo von einem Lebewesen die Rede ist und davon, daß es sich auf sich zurück-und auch anderes auf ›sich‹ beziehe, ein solches sich auf sich beziehendes Wesen ›ichhaft‹ und als ›Subjekt‹ vorzustellen. Der Bezugspunkt gleichsam, in den die Beziehung einmündet, die wir das ›auf sich zu‹ nennen, gilt als das Ich, und das Ich ist wie ein Punkt oder Pol oder ein Zentrum. Nicht zufällig spricht Leibniz, der jedes Seiende ›subjekt-‹ und ›ichhaft‹ vorstellt, von den einzelnen in sich bestehenden Seienden als den ›metaphysischen Punkten‹, die dann zugleich als das ›Innere‹ gegenüber einem ›Äußeren‹ bestimmt werden. Entsprechend gilt ›das Seelische‹ als ›das Innere‹ und ›Innerliche‹. Auch stellt das unmittelbar anschauliche Meinen, z. B. auch bei den Griechen, innere Leiborgane, ›das Herz‹ (καρδία , poet. κραδία ), ›das Zwerchfell‹ (φρήν, φρένες; φρονεῖν, φρόνησις als den Sitz der Gemütsbewegungen und des Gemütes überhaupt vor. Allein, wir müssen langsam unterscheiden lernen zwischen dem, wonach das anschauliche Vorstellen oft vorschnell greift und wobei es endet, und dem, was das Denken und Wissen in Wahrheit meint. Der Hinweis auf diese Unterscheidung meint allerdings nicht, das Anschauliche, Bildhafte solle mit der Zeit zugunsten des Unanschaulichen und Bildlosen abgedrängt werden. Es meint vielmehr dies, daß alles Bildhafte und jedes Bild nur erscheint und zum Scheinen kommt aus dem Bildlosen, das nach dem Bild ruft. Je ursprünglicher und wesender das Bildlose waltet, um so rufender ist es nach dem Bild, um so bildender ist das Bild selbst.


Martin Heidegger (GA 55) Heraklit