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Notwendigkeit der Frage nach dem Wesen der Wahrheit

ἀλήθεια immer zusammengenannt mit dem Seienden selbst: ἀλήθεια καὶ ὄν, die Unverborgenheit, das will sagen: das Seiende in seiner Seiendheit. Oft steht auch ἀλήθεια einfach anstelle von ὄν. Die Wahrheit und das Seiende in seiner Seiendheit sind dasselbe. Daraus ergibt sich, daß die Unverborgenheit nicht einfach nur statt auf die Aussage über das Seiende auf dasSeiende selbst bezogen ist, sondern daß sie den Grundcharakter des Seienden selbst und als solchen ausmacht.

Wie sollen wir das verstehen? Vor allem, wenn es so ist, wie sollen wir dann verstehen, daß die Griechen gerade nicht nach der ἀλήθεια fragten? Denn ihre ureigenste denkerische Frage,die alle ihre Besinnung leitete, war doch gerade die Frage nachdem Seienden - was es, das Seiende, denn sei. Die ἀλήθεια selbst ist ein Charakter des Seienden. Sie lag gleichsam in der unmittelbaren Richtung ihres eigentlichen Fragens vor ihnen.War somit, wenn die ἀλήθεια in der Fragerichtung lag, das Nichtfragen nach ihr nicht doch ein Versäumnis? Oder versagte hier die denkerische Kraft der Griechen?


§ 30. Das Standhalten in der den Griechen auferlegten Bestimmung als Grund für ihr Nichtfragen nach der ἀλήθεια. Das Nichtgeschehen ah das im Anfang und durch ihn notwendig Einbehaltene


Nein. Vielmehr haben die Griechen hier nicht mehr gefragt,weil dieses Fragen gegen ihre eigenste Aufgabe gewesen wäre,und weil es deshalb gar nicht in ihren Gesichtskreis kommen konnte. Nicht zufolge einer Unkraft haben sie nicht gefragt,sondern aus der ursprünglichen Kraft zum Standhalten in der ihnen aufgelegten Bestimmung.

Was war ihnen aufgegeben? Können wir dieses wissen? Wir vermögen es nicht nachzurechnen. Versuchen wir zu rechnen,dann gelangen wir nur zur Feststellung dessen, was die anfänglichen Denker meinten, wir gelangen zum Bericht über die


Martin Heidegger (GA 45) Grundfragen der Philosophie