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Grundfrage als geschichtliche Besinnung

Wahrheitsbegriffes zu besinnen, dann hat das nichts zu tun mit einer historischen Betrachtung einer vergangenen Lehrmeinung der angeblich längst überholten griechischen Philosophie.Nicht nur, weil die fragliche aristotelische Auffassung derWahrheit nicht vergangen ist und noch heute durchaus unserErkennen und Entscheiden bestimmt, sondern deshalb, weil wir die Aufstellung und Bewahrung der geläufigen Wahrheitsauffassung des Abendlandes im vorhinein und nur in Fragestellen aus unserem ins Künftige hineinfragenden Erwecken der Wahrheitsfrage als einer - oder vielleicht gar der Grundfrage der Philosophie. Dieses Fragen — falls es glückt — steht selbst in einem Geschehen, dessen Anfang zeitlich hinter Aristoteles zurückreicht und dessen Zukunft weit über uns hinausgreift. Wenn wir daher auf Gedanken der griechischen Philosophie uns besinnen, dann ist das nichts Vergangenes, auch nichtsHeutiges und zeitgemäß Gemachtes. Es ist Zukünftiges und deshalb Über-Historisches, Geschichtliches.

Das Wesen der Wahrheit ist kein bloßer Begriff, den dieMenschen im Kopfe tragen, sondern die Wahrheit west, sie istin ihrer jeweiligen Wesensgestaltung die bestimmende Macht für alles Wahre und Unwahre, was gesucht, worum gekämpft und wofür gelitten wird. Das »Wesen« der Wahrheit ist ein Geschehen, das wirklicher und wirksamer ist als alle historischen Begebenheiten und Tatsachen, weil es deren Grund ist.Das Geschichtliche aller Geschichte geschieht in jener großen Stille, für die der Mensch nur selten das rechte Ohr hat. Daß wir diese verborgene Geschichte des »Wesens« der Wahrheit sowenig oder gar nicht wissen, ist kein Beweis für ihre Unwirklichkeit, sondern nur ein Beleg für unsere Unkraft zur Besinnung. Wenn wir jetzt die Unterscheidung zwischen historischerBetrachtung und geschichtlicher Besinnung unserem Vorstellen geläufig machen, ist nichts gewonnen, solange wir sie nicht in wirklicher geschichtlicher Besinnung vollziehen und erproben.Ein erster Hinweis auf diese Unterscheidung mußte aber vorausgeschickt werden, um wenigstens zu verhindern, daß wir


Martin Heidegger (GA 45) Grundfragen der Philosophie