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§ 5. Zu Wahrheit und Sprache

wir schon früh diesem Charakter des Seins — der Mitanwesenheit des einen mit dem anderen. Es kann streng genommen gar nicht etwas Einziges, Einzelnes für sich als Seiendes »sein«, denn schon als Einziges — für sich — lebt es gleichsam vom Ausschluß gegen alles Abwesende und deshalb in einem Zusammenhang mit ihm: ὄν ist immer ξυνόν, οὐσία ist immer παρουσία.

Wir finden bei Heraklit einen Spruch, der uns hierüber belehrt: διὸ δει ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ ... τοῦ λόγου δ' ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἕχοντες φρόνησιν.2 »Darum gilt es nachzugehen dem Mitanwesenden... Obzwar die Rede [als sammelnde] auf die Mitanwesenheit [des einen mit dem anderen] geht, verhält sich die Menge der Menschen so, als hätte jeder gerade je seinen eigenen Verstand.« In diesem Spruch sind gegenübergestellt die Masse — und andere? Nicht viele und wenige der Zahl nach, sondern in der Art zu sein und zu reden. Die Masse ist zuchtlos; durch Beliebiges-Jeweiliges läßt sie sich fangen und zerstreut sich im Zufälligen und im Geschwätz über alles Mögliche und Unmögliche, obzwar die Rede und Sprache doch in sich auf das Gesammelte, Zusammengehörige und Beständige und Begrenzte geht.

Wer sich aus der Beliebigkeit und der Ungebundenheit der Meinungen heraushalten will, der muß dem Zusammenhang des Seienden nachgehen, d.h. dem Gefüge und Gesetz der Dinge sich einfügen und unterstellen und demgemäß in der Zucht der Sprache stehen, und der darf das Reden nicht gemein machen und im Geschwätz vernutzen.


Wir entnehmen aus diesem Spruch ein Dreifaches:

1. Über das Wesen des λόγος: Er ist Sammlung, geht auf das Mit und Zusammen des Seienden.

2. Über das Wesen des Seins: Es ist ξυνουσία, Mitanwesenheit des einen mit dem anderen, Gefüge und Verweisung.

3. Der λόγος bezieht sich als sammelnder auf nichts anderes als


2 Heraklit, Frgm. 2 (92); a.a.O. (Diels, 4. Aufl.), S. 77.


Martin Heidegger (GA 36/37) Sein und Wahrheit

Being and Truth p. 90