36
Das zweite Stadium

werden, zur Heilung von der Einsichtslosigkeit. Ἀφροσύνη, so nennt Platon den Zustand der Gefangenen, ist der Gegenbegriff zu φρόνησις, σωφροσύνη. φρόνησις ist für Platon der Titel für Erkenntnis überhaupt, d. h. Erfassen des Wahren, Umsicht und Einsicht, bezogen auf Welt und Selbst, beides in Einheit. Ich betone das, weil dann bei Aristoteles der Begriff φρόνησις ganz anders, und vor allem verengt, gefaßt ist. Wo diese fehlt, wo dem Menschen alles, Welt und Selbst, schattenhaft ist, ist kein Verhältnis zum eigentlich Wahren, Unverborgenen. Ἀφροσύνη ist der Zustand der Einsichts- und Umsichtslosigkeit, in dem der Mensch vom Wahren in jeder Hinsicht entfernt ist, keine Umsicht in der Welt und keine Einsicht in sich selbst hat. Da fehlt dem Menschen etwas, er ist krank, da ist Heilung notwendig. Heilung setzt aber voraus rechte Erfassung der Krankheit. Dazu kommt es nicht bei solcher Entfesselung. Der Entfesselte kennt ja sein früher Gesehenes nicht als Schatten; stattdessen wird er einfach von dem damals Gesichteten weg vor die im Licht flimmernden Dinge gestellt. Diese können ihm nur ein irgendwie anderes sein gegenüber dem Früheren. Durch dieses bloße Anders entsteht lediglich Verwirrung. Das ihm Gezeigte gewinnt keine Eindeutigkeit und Bestimmtheit. Daher will der Entfesselte zurück in die Fesseln.

8. Das Abnehmen der Fesseln ist daher keine wirkliche Befreiung des Menschen. Es bleibt äußerlich, greift den Menschen nicht an in seinem eigenen Selbst. Nur Umstände wechseln, aber nicht wandelt sich sein innerer Zustand, sein Wollen. Der Entfesselte will zwar, aber zurück in die Fesseln. Er. will, so wollend, das Nichtwollen: er will nicht selbst beteiligt sein. Er weicht aus und zurück vor einer Zumutung, in der von ihm ein völliges Aufgeben seiner bisherigen Lage verlangt wird. Er ist überdies weit davon entfernt, zu verstehen, daß der Mensch jeweils nur das und nur so viel ist, wie er sich zuzumuten die Kraft hat.

Mit dem Versagen dieser Befreiung endet das zweite Stadium. Die Befreiung mißlingt, weil der zu Befreiende sie nicht


Martin Heidegger (GA 34) Vom Wesen der Wahrheit