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§ 30. Nichtmehr-zugelassensein des Zeitvertreibs

wenn wir sagen: es blitzt, es donnert, es regnet. Es — das ist der Titel für das Unbestimmte, Unbekannte. Aber das kennen wir doch und kennen es als zugehörig der tieferen Form der Langeweile: das Langweilende. Es — das eigene stehen gelassene Selbst, das jeder selbst ist und je mit dieser bestimmten Geschichte, in diesem bestimmten Stand und Alter, mit diesem Namen und Beruf und Schicksal, das Selbst, das eigene liebe Ich, von dem wir sagen, daß ich mich, du dich, wir uns langweilen. Aber wir sprechen jetzt nicht mehr von diesem Sichlangweilen bei ... , sondern sagen: es ist einem langweilig. Es — einem — nicht mir als mir, nicht dir als dir, nicht uns als uns, sondern einem. Name, Stand, Beruf, Rolle, Alter und Geschick als das Meinige und Deinige fällt von uns ab. Deutlicher, gerade dieses ›es ist einem langweilig‹ läßt all das abfallen. Was bleibt? Ein allgemeines Ich überhaupt? Ganz und gar nicht. Denn dieses ›es ist einem langweilig‹, diese Langeweile vollzieht ja keine Abstraktion und Verallgemeinerung, in der ein allgemeiner Begriff ›Ich überhaupt‹ gedacht würde, sondern es langweilt. Das ist nun das Entscheidende, daß wir dabei zu einem indifferenten Niemand werden. : Die Frage ist: Was geschieht darin, was geschieht in diesem ›es ist einem langweilig‹?

Suchen wir jedoch entsprechend unserem früheren Vorgehen nach einem Beispiel, so zeigt sich: Es ist keines zu finden. Nicht etwa, weil diese Langeweile nicht vorkommt, sondern weil sie, wenn sie vorkommt, gar nicht auf eine bestimmte Situation und bestimmte Veranlassung und dergleichen bezogen ist, wie in der ersten und zweiten Form der Langeweile. Es ist einem langweilig, das kann unverhofft und gerade dann eintreten, wenn wir es schlechthin nicht erwarten; es kann freilich auch Situationen geben, wo diese Grundstimmung aufbricht, Situationen, die persönlich nach der persönlichen Erfahrung, Veranlassung, Schicksal ganz verschieden sind. Um eine mögliche, aber gänzlich unverbindliche Veranlassung zu nennen, die vielleicht dem einen oder anderen


Martin Heidegger (GA 29/30) Die Grundbegriffe der Metaphysik