Aus der Nachschnft Märchen 209

αἴσθησις. Durch diese αἴσθησις entsteht manchen Lebewesen die μνήμη, »Gedächtnis«, das »Behalten«. Unterschied von αἴσθησις und μνήμη: Charakteristikum der αἴσθησις: Das Seiende, das entdeckt wird, ist in der Gegenwart des betreffenden Lebenden da. Wäre Lebendes nur durch αἴσθησις bestimmt, so wäre die Welt für es nur so weit entdeckt, wie es im Moment gerade sieht, spürt usw. Das Lebende bliebe auf den Umkreis des gerade Vorhandenen beschränkt. Dadurch, daß es μνήμη gibt, wird das Lebende in gewisser Weise frei, es ist nicht an das in der Wahrnehmung Daseiende gebunden. So beherrscht das Lebende einen weiteren Umfang der Welt, der für es verfügbar wird und bleibt. Daher ist Übersehen und Vergleichen möglich. Es bedarf für sein Sein in der Welt nicht immer eines neuen Erfassens, sondern wenn es an dieselbe Stelle des Weltzusammenhangs gelangt, weiß es schon, wie es damit bestellt ist. Die Lebewesen, die μνήμη haben, sind φρονιμώτερα, sind »umsichtiger«; sie leben nicht aus einem Momentanen, sondern aus einem beherrschten Ganzen heraus. Als φρονιμώτερα sind sie auch μαθητικώτερα (μάθησις: das »Lernen«; μάθημα: das »Lernbare«), sie sind »gelehriger«, zugänglicher. Dadurch erhöhen sie den Bestand dessen, was sie verstehen und kennen. Es gibt Lebewesen, die über die αἴσθησις hinaus φρόνησις haben, aber trotzdem nicht gelehrig sind: solche, die nicht hören können, z. B. die Bienen. Solche Lebewesen, die hören, vermögen zu lernen; denn ihnen kann etwas beigebracht werden, was sie selbst nicht vernommen und erfaßt haben. Das Hören ist ein Fernsinn und ermöglicht eine eigentümliche Art der Mitteilung. »Die eigentliche Weise der αἴσθησις ist das Hören« — eine ganz ungriechische Aussage, die zeigt, daß Aristoteles ein tieferes Verständnis hat für den Zusammenhang von Rede und Hören.

In den Umkreis der Lebewesen gehört für Aristoteles ohne weiteres auch der Mensch. Er wird dadurch abgetrennt, daß er über Gelehrigkeit und Umsicht hinaus noch die Möglichkeit der τέχνη und des λογισμός hat. τέχνη ist nicht gleich »Kunst«,


Martin Heidegger (GA 22) Grundbegriffe der antiken Philosophie