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Aus der Nachschrift Märchen

nicht versagt, sondern er mußte die Philosophie an diese Grenze führen.


3. (zu S. 24 ff.)


Met. A 1, 980 a 21 sqq.: Erkennen, Wissen, Verstehen, Erfahren und ähnliche Begriffe kommen zur Bestimmung; dies zuerst durch Aristoteles geleistet. σοφία, ἐπιστήμη, φρόνησις, τέχνη sind Begriffe, die noch bei Plato ungeklärt sind. Alle sind zusammenzufassen durch den Ausdruck »Verstehen«, nicht im spezifisch theoretischen Sinne, sondern in einem praktischen Sinne: z. B. »jemand versteht sein Handwerk«, er »kann« seine Sache; »verstehen« wörtlich = ἐπίστασθαι, einer Sache »vorstehen können«. Erst allmählich haben diese Ausdrücke eine spezifisch theoretische Prägung erhalten.

Aristoteles interpretiert den Prozeß des Verstehens. Er zeigt, wie aus der Natur des Menschen die verschiedenen Möglichkeiten des Verstehens entspringen, in ihrem genetischen Zusammenhang. Es bedarf dazu des Blickes auf ein Seiendes, dessen Seinsart durch Verstehen oder Erkennen bestimmt ist. Dieses Seiende, das, sofern es ist, eo ipso versteht, nennen wir Leben, im engeren Sinne das menschliche Dasein. Zur Seinsart des menschlichen Daseins, in gewissem Sinne auch zu der des Tieres, gehört das Verstehen. Dadurch, daß etwas verstanden wird, ist es in seinem Sosein offenbar; es ist nicht mehr verborgen. Im Verständnis liegt etwas wie Wahrheit, ἀλήθεια: das, was unverborgen ist, nicht verdeckt, sondern entdeckt. Sofern zum Seienden Verständnis gehört, sofern überhaupt Lebendes ist, versteht es; mit seinem Sein als einem verstehenden ist ein anderes Sein entdeckt. Jedes Lebende hat, sofern es ist, eine Welt, was von Nichtlebendem nicht gilt. Jedes Lebende ist auf etwas orientiert, auf das es sich richtet, dem es ausweicht usw.; freilich das noch unbestimmt. So können wir die Protozoen und überhaupt die Lebewesen nur indirekt nach Analogie von uns


Martin Heidegger (GA 22) Grundbegriffe der antiken Philosophie