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Das Wahrheitsproblem bei Aristoteles

sondern nicht bedürfen kann. Jede solche Hinblicknahme hieße schon, sich selbst den Zugang zu versperren. Und wo nun Aristoteles 1052 a 1 diese Frage nach dem Sein stellt, am Leitfaden des θιγεϊν und einfachen νοεῖν, da lautet die Antwort ebenso wie die Antwort auf die Frage nach der Weise des entdeckenden Zugangs zu diesem Seienden. Also die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit (Entdeckung) übernimmt die Stellvertretung für die Antwort auf die Frage nach dem Sein — und das in einer Erörterung, in der nach dem eigentlichen Sein gefragt wird. Roh gesprochen: Das Sein wird »durch« das Denken bestimmt, beide identisch gesetzt.

Diese Formulierung, wie sie von neuzeitlicher Philosophie her verstanden werden könnte, ist allerdings unzutreffend, aber es ist doch merkwürdig, daß gerade Schwegler es war, der dieses ganze Kapitel aus der Metaphysik herauswerfen wollte. Schwegler, der als Hegelianer doch einiges Verständnis dafür hätte haben müssen, daß hier Aristoteles in gewisser Weise Denken und Sein identifiziert.

Demnach ist jetzt eine Weise von Entdeckung gewonnen, die sich vor anderen ausnimmt, was sich darin zeigt, daß diese Wahrheit kein mögliches Gegenteil im Sinne einer Falschheit hat, genauer: ein Entdecken ist, für das es keine Verdeckung gibt.

c) Die drei Bedingungen der Möglichkeit des Falschseins
der Ausage in ihrer Verklammerung

Was ist damit aber erreicht für die uns jetzt einzig beschäftigende Frage, inwiefern σύνθεσις die Bedingung der Möglichkeit von Falschheit sei? Wie soll dazu die Erörterung einer Wahrheit dienen, die überhaupt keine Falschheit als Gegenteil zuläßt? Verlieren wir damit nicht gerade den thematischen Boden? Ganz und gar nicht, sondern wir haben nun erst die Basis für die Entscheidung der Frage — denn an der Entdeckung, die überhaupt keine Verdeckung (Falschheit) zuläßt, ist abzunehmen,


Martin Heidegger (GA 21) Logik Die frage nach der Wahrheit