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Die Genesis der σοφία im natürlichen Dasein

Dieser eigentliche Sinn des ἀγαθόν muß festgehalten werden, sofern es sich darum handelt, den Ausdruck ἀγαθόν als eigentlich philosophischen Terminus zu verstehen.

Damit haben wir eine andere Sachlage: Sofern das ἀγαθόν nicht primär auf die πρᾶξις bezogen, sondern verstanden wird als Grundverfassung des Seienden an ihm selbst, ist die Möglichkeit vorgezeichnet, daß das ἀγαθόν als ἀρχή gerade Gegenstand eines θεωρεῖν ist, ja, daß gerade bezüglich dieses Seienden als ἀείδν, als Immersein — bezüglich dessen ich nicht handeln kann -, das rechte Verhältnis die θεωρία ist. Diese Möglichkeit ist durch die Interpretation des ἀγαθόν als πέρας vorgezeichnet. Wie Aristoteles das interpretiert, werden wir in der nächsten Stunde sehen2.

Jetzt haben wir lediglich die folgende Möglichkeit gewonnen: Obzwar das ἀγαθόν auf die πρᾶξις orientiert ist, bleibt doch auf Grund des ontologischen Grundverständnisses des ἀγαθόν der Weg frei, daß es ein Verhalten gibt, das als theoretisches das rechte Verhalten zum ἀγαθόν darstellt. So kann Aristoteles sagen, daß die σοφία, in der er dieses θεωρεῖν sieht, eine ganz eigentümliche φρόνησις ist, eine τοιαύτη φρόνησις (982b24). Es ist nicht die φρόνησις, wie wir sie kennen, bezogen auf das Seiende, das anders sein kann, auf das Seiende der Handlung-, es ist eine φρόνησις, die zwar auf ein ἀγαθόν geht, aber auf ein solches, das nicht πρακτόν ist. Daß Aristoteles hier die σοφία als eine τοιαύτη φρόνησις bezeichnet, zeigt zugleich eine Orientierung gegen Plato an, der in der Unterscheidung der Phänomene nicht ins Reine kam. Wenn Aristoteles von der σοφία als φρόνησις spricht, so will er damit andeuten, daß er in der σοφία, wie Plato in der φρόνησις, die höchste Art des ἀληθεύειν und überhaupt das höchste Verhalten, die höchste Existenzmöglichkeit des Menschen sieht.


2 Diese Ankündigung fallt selbst in die 13. Vorlesungsstunde (24. XI. 1924). Die »nächste Stunde« ist die 14. Vorlesungsstunde (25. XI. 1924). Jedoch findet sich in dieser keine entsprechende Ausführung.


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes