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Die Genesis der σοφία im natürlichen Dasein

(a15 sqq). »Der Grund liegt darin, daß die τέχνη ihrem Sinn nach auf das καθόλου geht«, auf das Aussehen, das jeweils in den einzelnen Fällen wiederkehrt, während der Sinn der πρᾶξις z.B. das Heilen ist, d.h. den betreffenden bestimmten Kranken gesund zu machen; die πρᾶξις geht auf das καθ᾽ εκαστόν. — Damit sind wir auf Begriffe gestoßen, die für das weitere Verständnis und für die Unterscheidung der σοφία und der φρόνησις wichtig sind: καθόλου und καθ᾽ ἕκαστον. Wir werden diese Begriffe noch genauer betrachten müssen. Was diese bei den Begriffe meinen, deckt sich mit dem ἀεί ὄν und dem ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν. — Derjenige also, der über die ἐμπειρία verfügt, hat hinsichtlich des Erfolgs meist den Vorzug vor dem, der nur über den λόγος verfügt. Ja, dieser versagt oftmals sogar in der Ausführung. Und dennoch, trotz dieses Mangels bzw. Versagens, wird der τέχνη bzw. dem τεχνίτης ein Vorzug zugesprochen: daß er nämlich σοφώτερος sei. Die σοφία geht hier also nicht auf das Mehr an Fertigkeit — die auf dem Probieren beruht -, sondern auf das Mehr des aufdeckenden Sehens dessen, worauf sich das Verrichten bezieht. Das μάλλον geht in die Richtung des Mehr an hinsehendem Verstehen, des Mehr an eigenständigem, lediglich aufdeckendem Betrachten. Die τέχνη hat ihre τελείωσις im εἰδέναι. Die ἐμπειρία steht insofern im Nachteil gegenüber der τέχνη, als in ihr das, was der Gegenstand ist, verdeckt bleibt; das εἶδος ist noch συγκεχυμένον3. Dagegen ist in der τέχνη präsent das Was dessen, worum es sich handelt. Die τέχνη geht hinter den Verweisungszusammenhang des Sobald — dann zurück auf das Weil — deshalb. Das Wenn — so kann also in das Weil — deshalb übergehen. Aber das Sobald — dann ist auch hier noch lebendig; es ist im Weil — deshalb geklärt und durchsichtig. Die Zeitcharaktere treten nur in den Hintergrund, sie verschwinden nicht. Und im Weil — deshalb, wie es in der τέχνη aufgedeckt ist, ist schon vorgezeichnet



3 Vgl. Phys. I, 1; 184a21 sq und die Interpretation Heideggers S. 86 ff


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes