61
5 9. Die Analyse der σοφία

so daß der ursprüngliche Boden ohne Anleitung der Arbeit des Aristoteles nur schwer erkennbar wird. Andererseits aber ist es nicht möglich, am Leitfaden der kantischen Unterscheidung von praktischer und theoretischer Vernunft ein Verständnis von φρόνησις und σοφία zu suchen.

Um das Resultat vorwegzunehmen: Aristoteles weist nach,

1. daß die σοφία die andere höchste Möglichkeit des ἀληθεύειν, die zweite βελτίστη ἕξις neben der φρόνησις ist,

2. daß sie gegenüber der φρόνησις noch einen Vorrang hat, so, daß dieses ἀληθεύειν eine eigene und die eigentliche Möglichkeit des Daseins ausmacht: den βίος θεωρητικός, die Existenz des wissenschaftlichen Menschen.

Dieses Resultat ist umso verwunderlicher, wenn man bedenkt, daß die σοφία das Seiende, das immer ist, zum Thema hat, während doch gerade die φρόνησις auf das ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν, das Sein des menschlichen Daseins, zielt und es durchsichtig macht.

Damit verständlich wird, weshalb die σοφία dennoch die höchste Möglichkeit des ἀληθεύειν ist, bedarf es einer eingehenden Untersuchung der σοφία, und zwar ist sie

1. gegenüber der φρόνησις in ihrer eigenen Struktur herauszuarbeiten und als die eigentliche Weise des ἀληθεύειν, als höchste Seinsmöglichkeit des Daseins, durchzusetzen, — wobei die φρόνησις konkreter heraustreten wird.

2. Dieses Resultat ist nicht dogmatisch von Aristoteles dem damaligen Dasein der Griechen aufgezwungen; Aristoteles will nichts Unerhörtes und Neues; sondern er macht die σοφία als die höchste Seinsmöglichkeit aus dem Sein des griechischen Daseins selbst verständlich. Er denkt das, was das natürliche Lebensverständnis der Griechen anstrebte, radikal zu Ende.

3. Mit dem Verfolgen dieser Verwurzelung des Vorrangs der σοφία im Dasein werden wir zugleich ein Verständnis dafür gewinnen, warum nicht die φρόνησις die ἀρετή der τέχνη ist, sondern dies gerade die σοφία ah ἀρετή der ἐπιστήμη, als


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes