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§ 6.Die Wesensbestimmung der ἐπιστήμη

und κινεῖν. Den Charakter der κρίσις hat schon die αἴσθησις des Tieres; auch in der αίαθησις, im natürlichen Wahrnehmen, wird etwas gegen etwas abgehoben. Die zweite Bestimmdung ist das κινεῖν, das »Sich-Umtun«. Dem entspricht die höhere Bestimmung des Seins des Menschen: die πρᾶξις, das κινεῖν im Sinne des κρίνειν, des sprechenden Unterscheidens. Die ζωή des Menschen ist πρακτική μετὰ λόγου2. Sie ist charakterisiert durch πρᾶξις καὶ ἀλήθεια (vgl. Eth. Nic. VI,2; U39al8), durch πρᾶξις, Handeln, und ἀλήθεια, das Aufgedecktsein des Daseins selbst sowie des Seienden, auf das sich das Handeln bezieht. Diese beiden Grundbestimmungen können nun — mit Hinblick auf die Sichtigkeit und ihre Möglichkeiten — formuliert werden als: αἴσθησις, νοῦς, ὄρεξις. So sagt Aristoteles: die κύρια, die beherrschenden Möglichkeiten eines jeden menschlichen Verhaltens, sind: αἴσθησις, νοῦς, ὄρεξις. τρία δή ἐστιν ἐν τῇ ψυχῇ τὰ κύρια πράξεως καὶ ἀληθείας, αἴσθησις νοῦς ὄρεξις (a17 sqq).

Jedes Verhalten des Daseins ist also bestimmt als πρᾶξις καὶ ἀλήθεια. Bei der ἐπιστήμη, dem wissenschaftlichen Erkennen, ist nun der Charakter der πρᾶξις deshalb nicht eigens herausgetreten, weil das Erkennen in der Wissenschaft eigenständig ist und als Eigenständiges selbst schon die πρᾶξις und ὄρεξις ist Bei der τέχνη aber ist das ἀληθεύειν das einer ποίησις; die τέχνη ist eine διάνοια ποιητική (vgl. a27 sq), ein solches Durchdenken des Seienden, das mit beiträgt zum Herstellen, zu der Art, wie etwas gemacht werden soll. Deshalb ist in der τέχνη als ποίησις und in jeder πρᾶξις das ἀληθεύειν ein λέγειν, das, ὁμολόγως ἔχον τῇ όρέξει (vgl. a30), »genau so spricht, wie die ὄρεξις will«. Es ist keine theoretische Spekulation über das Seiende, sondern es spricht das Seiende so aus, daß es für das rechte Durchführen dessen, was hergestellt werden soll, die richtige Weisung gibt. So ist das ἀληθεύειν in der τέχνη und φρόνησις auf die ποίησις und πρᾶξις orientiert.



2 Vgl. Eth. Nic. I, 6; 1098a3 sqq.


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes