36
Übersicht über die Weisen des ἀληθεύειν

die Anderen, »dadurch, daß offensichtlich ist das Jeweilige«, d. h. ein bestimmter Fall. Das ist die eine Weise, wie den Anderen eine Überzeugung beigebracht wird. Dieser Weg ist die ἐπαγωγή (a6), die ein schlichtes Hinführen, nicht aber ein eigentliches Argumentieren ist. Man kann aber auch so vorgehen, daß man das Verbindliche und Allgemeine λαμβάνοντες ὡς παρὰ ξυνιέντω (a7 sq), nimmt aus dem natürlichen Verständnis, aus dem, was man weiß und worin man übereinstimmt. Man rechnet mit bestimmten Kenntnissen, über die die Hörer verfügen und die nicht weiter diskutiert werden. Und aus ihnen versucht man den Hörern etwas durch συλλογισμός (a5) zu beweisen. Der συλλογισμός und die ἐπαγωγή sind die beiden Wege, auf denen den Anderen ein Wissen über bestimmte Dinge beigebracht werden kann. Das Schließen ἐκ προγιγνωσκομένων (vgl. a6), »aus solchem, was im vorhinein gewußt wird«, ist die Mitteilungsart der ἐπιστήμη. Es ist also möglich, jemandem eine bestimmte Wissenschaft beizubringen, ohne daß er alle Tatbestände selbst gesehen hat oder sehen kann, wenn er nur über bestimmte Voraussetzungen verfügt. Diese μάθησις ist am reinsten ausgebildet in der Mathematik. Die Axiome der Mathematik sind solche προγιγνωσκόμενα, aus denen heraus man zwar die einzelnen Deduktionen vollzieht, ohne daß man jedoch ein eigentliches Verständnis von den Axiomen hat. Der Mathematiker selbst diskutiert nicht die Axiome, sondern er arbeitet mit ihnen. Zwar gibt es in der modernen Mathematik eine Axiomatik. Aber man macht die Beobachtung, daß die Mathematiker auch die Axiomatik mathematisch betreiben. Sie suchen die Axiome auf dem Wege der Deduktion und der Relationslehre zu beweisen, also auf dem Wege, der selbst in den Axiomen seinen Boden hat. So aber sind die Axiome selbst nicht aufzuklären. Das, was im vorhinein schon vertraut ist, dies aufzuklären, ist vielmehr Sache der ἐπαγωγή, der Aufklärungsart des schlichten Hinsehens. Die ἐπαγωγή ist also offenbar der Anfang bzw. das, was die ἀρχή erschließt; sie ist das Ursprünglichere, und nicht die ἐπιστήμη.


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes