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§ 16. Das ἦθος und das πάθος als πίστεις

sich die Dinge im vorhinein in einem anderen Licht«, und dementsprechend wird er sich auch anders bei und zu der Beratung stellen.


b) Das ἦθος als πίστις


Das ἦθος und die πάθη sind konstitutiv für das λέγειν selbst. Zunächst betrachten wir das ἦθος, die »Haltung« des Redners: in welcher Weise der Redner im Reden sich seinen Hörern gibt, wie dieses Sichgeben beiträgt zur Ausbildung des πιθανόν, wie dieses ἦθος die Möglichkeit bekommt, mitzusprechen, mit ins Gewicht zu fallen. Woran liegt es beim Sprechen, daß wir als Hörer den Redenden als solchen nehmen, der selbst für die Sache, die er vertritt, Zeugnis ablegt? Worin liegt es in ihm selbst, daß er mit seiner Person für die Sache spricht, abgesehen davon, was er sagt, von den sachlichen Argumenten, die er für etwas beizubringen hat?

Für die Ausbildung des ἦθος kommen drei Momente in Frage: l. die φρόνησις, »Umsicht« — der Redende muß sich im Reden selbst zeigen als ein Umsichtiger; 2. ἀρετή, »Ernst«, umschrieben Früher mit σπουδαίως; 3. εὔνοια, »gute Gesinnung«, »Wohlwollen«.7

Aristoteles zeigt die konkrete Bedeutung dieser drei Momente des ηθος dadurch auf, daß er den entgegengesetzten Weg einschlägt, aus dem Gegenteil, indem er fragt: Woran liegt es in der Ari und Weise des Sichgebens des Redners, daß wir von ihm die Meinung bekommen, er täuscht, er führt irre? Aristoteles fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Sichzeigens als einer, der täuscht. Was fehlt ihm in der Art und Weise, wie er sich gibt, daß wir ihn nicht als einen solchen nehmen, der in der Tat das richtige ἦθος hat?

1. In seinem Reden kann sich der Redende zeigen als ein ούκ ύρθώς δοξάζων,8 »der sich nicht in der rechten Weise seine Ansicht


7 Rhet. B 1, 1378 a 9.

8 Rhet. B 1, 1378 a 11 sq.: ούκ όρθώς δοξάζουσιν.


Martin Heidegger (GA 18) Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie