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Logos als Maß des Seienden; Meinungen der Meisten

Kommen wir von hier aus auf das Fragment 72 zurück, so 15 besagt es: alltäglich lebt der Mensch in Beziehung zu Tag und Nacht. Aber wie Hesiod bemerkt er nur ihr Wechselspiel oder ihr Umschlagen. Er sieht nicht, daß dies angebliche Wechselspiel (Umschlagen) in verborgenerer Weise ihr Sein selbst ist. Was wahrhaft ist, ist weder der eine noch die andre, sondern die Miteinanderzusammengehörigkeit beider als die verborgene Mitte des einen und der anderen. Weil jedoch die ἀξύνετοι , die, die das ξυνόν nicht kennen, sich von dem abkehren, auf das sie wesentlich bezogen sind, erscheint ihnen alles in einem entfremdenden Licht. Unablässig gibt der λόγος ein Maß, das nicht angenommen wird. Daher:

Während der λόγος in dem ist, was anwest, und sein Anwesen deshalb selbst jeglichem ein Maß anweist, leben sie aus ihm, die Allermeisten, dennoch auf die Weise, daß jeder eine Meinung für sich hat. Sie leben aus ihm, ohne zu wissen, wovon sie sprechen. Sie sagen ist ohne zu wissen, was ist eigentlich bedeutet.

So steht es mit der ἰδία φρόνησις, für die Durst empfinden nichts als Durst haben heißt, Hunger nichts als Hunger, da der Tag nur noch Tag ist und die Nacht nichts als Nacht. Dem steht das ξυνόν gegenüber, das Heraklit, kühner noch als wir da wir es auf ξυνιέναι bezogen, versteht als: ξυν νόῳ λέγειν (Fragment 114): sagen oder vielmehr seinlassen in Übereinstimmung mit dem νόος, dem Sinn.

Die, deren Wort mit dem νόος übereinstimmt, müssen darin immer fähiger werden, indem sie sich an das ξυνόν πάντον halten, an das, worin alles übereinkommt, -und nicht im Wind der Meinungen nach allen Richtungen schwanken, wie es denen zustößt, die anstatt zu denken sich darauf beschränken, Informationen aufzugreifen (ἱστορεῖν, Fragment 35).

Wir schließen mit zwei Hinweisen:

1) In all dem, wovon der λόγος das Maß gibt, handelt es sich zwar um ein διά, aber er ist niemals dialektisch bestimmt, das heißt als Gegenüberstehen ständiger Gegensätze.


Martin Heidegger (GA 15) Seminare