131

Elfte Stunde

        schließt und so der Grund aller Begründung ist. Das Transzendentale 
        der transzendentalen Methode Kants ist ein Vorstellen, 
        das der Zustellung des zureichenden Grundes entspricht, und 
        d. h. im Anspruch auf diese Zustellung beruht. Das Transzendentale 
        ist keineswegs ein vom menschlichen Denken erfundenes 
        Verfahren. Wie das Transzendentale der Methode zurückwinkt 
        bis in die φύσις der Griechen, so weist es vorwärts 
        in die neueste Epoche des Seinsgeschickes. Denn in der zur 
        Gegenständigkeit der Gegenstände, d. h. zum Sein des erfahrbaren 
        Seienden gehörenden transzendentalen Methode, gründet das, 
        was in der Metaphysik des deutschen Idealismus die Dialektik ist. 
        Diese seinsgeschichtlich zu denkende Dialektik aber, gewandelt 
        als historisch-dialektischer Materialismus, bestimmt vielfältig 
        die heutige Menschheitsgeschichte. Die weltgeschichtliche 
        Auseinandersetzung in unserem Zeitalter kommt weiter her, als uns 
        die vordergründigen politischen und wirtschaftlichen Machtkämpfe 
        einreden möchten.
        Mit der Zuschickung des Seins als Gegenständigkeit beginnt 
        der äußerste Entzug des Seins, insofern die Wesensherkunft des 
        Seins nicht einmal als Frage und Fragwürdiges in den Blick 
        gelangen kann. Weshalb nicht? Weil im vollständig durchmessenen 
        Bereich der ratio als Vernunft und Subjektivität zugleich 
        die vollständige Begründung des Seienden als solchen beschlossen 
        und geschlossen ist.
        [In der Rede vom Seinsgeschick besagt »Sein« nichts anderes 
        als: Sichzuschicken der lichtenden Einräumung des Bereiches für 
        ein Erscheinen des Seienden in je einer Prägung bei gleichzeitigem 
        Entzug der Wesensherkunft des Seins als solchen. Das 
        abendländische Denken im Zeitalter der Aufstellung des Satzes 
        vom Grund als des obersten Grundsatzes spielt in einer Epoche 
        des Seinsgeschickes, die auch unser heutiges geschichtliches 
        Dasein noch beschickt, auch dann beschickt, wenn wir selbst von den 
        Denkern dieser Epoche, von Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, 
        nur noch die Namen kennen und von ihrer innersten 
        Verwandtschaft und Sternenfreundschaft nichts mehr erfahren.]

Martin Heidegger (GA 10) Der Satz vom Grund