13
Erste Stunde

Mnemosyne, die Tochter von Himmel und Erde, wird als Braut des Zeus in neun Nächten die Mutter der Musen. Spiel und Musik, Tanz und Dichtung gehören dem Schoß der Mnemosyne, der Gedächtnis. Offenkundig meint dieses Wort anderes als nur die von der Psychologie feststellbare Fähigkeit, Vergangenes in der Vorstellung zu behalten. Gedächtnis denkt an das Gedachte. Aber als Name der Mutter der Musen meint »Gedächtnis« nicht ein beliebiges Denken von irgendwelchem Denkbaren. Gedächtnis ist die Versammlung des Denkens auf das, was überall im voraus schon bedacht sein möchte. Gedächtnis ist die Versammlung des Andenkens. Sie birgt bei sich und verbirgt in sich das, woran jeweils zuvor zu denken ist bei allem, was west und sich als Wesendes, Gewesendes zuspricht: Gedächtnis, die Mutter der Musen: das Andenken an das zu-Denkende ist der Quellgrund des Dichtens. Das Dichten ist darum das Gewässer, das bisweilen rückwärts fließt der Quelle zu, zum Denken als Andenken. Solange wir freilich meinen, darüber, was Denken sei, gäbe uns die Logik einen Aufschluß, solange werden wir nicht bedenken können, inwiefern alles Dichten im Andenken beruht. Alles Gedichtete entspringt aus der An-dacht des Andenkens.

Unter dem Titel Mnemosyne sagt Hölderlin:
»Ein Zeichen sind wir, deutungslos...«
Wer wir? Wir, die heutigen Menschen; die Menschen eines Heute, das schon lange und noch lange währt in einer Länge, für die keine Zeitrechnung der Historie je ein Maß aufbringt. In derselben Hymne Mnemosyne heißt es: »Lang ist / die Zeit« — nämlich die, in der wir ein deutungsloses Zeichen sind. Gibt das nicht genug zu denken, daß wir ein Zeichen sind und zwar ein deutungsloses? Vielleicht gehört das, was der Dichter in diesen und in den folgenden Worten sagt, zu dem, woran sich uns das Bedenklichste zeigt, zu jenem Bedenklichsten, an das die Behauptung über unsere bedenkliche Zeit zu denken versucht. Vielleicht bringt diese Behauptung, wenn wir sie nur genügend erörtern, einiges Licht in das Wort des Dichters; vielleicht auch ruft wiederum das


Martin Heidegger (GA 8) Was heisst Denken?