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Vorlesung Winter semester 1951/52

        eine fruchtbare, wenn die Kluft sichtbar geworden ist, die 
        zwischen dem Denken und den Wissenschaften besteht, und zwar 
        besteht als eine unüberbrückbare. Es gibt hier keine Brücke, 
        sondern nur den Sprung. Darum sind vollends alle Notbrücken und 
        Eselsbrücken, die zwischen dem Denken und den Wissenschaften 
        gerade heute einen bequemen Marktbetrieb einrichten wollen, 
        vom Übel. Darum müssen wir jetzt, insofern wir aus den Wissenschaften 
        herkommen, das Anstößige und Befremdliche des Denkens 
        aushalten — gesetzt, daß wir bereit sind, das Denken zu lernen. 
        Lernen heißt: unser Tun und Lassen zu dem in die 
        Entsprechung bringen, was sich jeweils an Wesenhaftem uns 
        zuspricht. Damit wir solches Bringen vermögen, müssen wir uns 
        auf den Weg machen. Wenn wir das Denken lernen, dürfen wir 
        vor allem auf dem Weg, den wir dabei einschlagen, uns nicht 
        voreilig über die bedrängenden Fragen hinwegtäuschen, sondern 
        müssen uns auf Fragen einlassen, die Jenes suchen, was sich 
        durch kein Erfinden finden läßt. Wir Heutigen zumal können 
        nur lernen, wenn wir dabei immer zugleich verlernen; für den 
        uns angehenden Fall gesprochen: wir können das Denken nur lernen, 
        wenn wir sein bisheriges Wesen von Grund aus verlernen. 
        Aber dazu ist nötig, daß wir es zugleich kennen lernen.
        Wir sagten: der Mensch denkt noch nicht und zwar deshalb 
        nicht, weil das zu-Denkende sich von ihm abwendet; er denkt 
        keineswegs nur darum nicht, weil der Mensch sich dem zu-Denkenden 
        nicht hinreichend zu-wendet.
        Das zu-Denkende wendet sich vom Menschen ab. Es entzieht 
        sich ihm. Doch wie können wir von Solchem, das sich einsther 
        entzieht, überhaupt das Geringste wissen oder es auch nur nennen? 
        Was sich entzieht, versagt die Ankunft. Allein — das Sichentziehen 
        ist nicht nichts. Entzug ist Ereignis. Was sich entzieht, 
        kann sogar den Menschen wesentlicher angehen und in den 
        Anspruch nehmen als alles Anwesende, das ihn trifft und betrifft. 
        Die Betroffenheit durch das Wirkliche hält man gern für das, was 
        die Wirklichkeit des Wirklichen ausmacht. Aber die Betroffenheit 
        durch das Wirkliche kann den Menschen gerade gegen das

Martin Heidegger (GA 8) Was heisst Denken?