269
Aletheia (Heraklit, Fragment 16)
Weil das historische Verrechnen der Auslegungen das fragende Gespräch mit dem Denker schon verlassen, vermutlich sich nie darauf eingelassen hat.
Das jeweils Andere jeder gesprächsweisen Deutung des Gedachten ist das Zeichen einer ungesagten Fülle dessenb, was auch Heraklit seihst nur auf dem Weg der ihm gewährten Hinblicke zu sagen vermochte. Der objektiv richtigen Lehre des Heraklit nachjagen zu wollen, ist ein Vorhaben, das sich der heilsamen Gefahr entzieht, von der Wahrheit eines Denkens betroffen zu werden.
Die folgenden Bemerkungen führen zu keinem Ergebnis. Sie zeigen in das Ereignis.
Heraklits Spruch ist eine Frage. Das Wort, worin sie sich im Sinne des τέλος be-endet, nennt jenes, von woher das Fragen beginnt. Es ist der Bereich, worin sich das Denken bewegt. Das Wort, in das die Frage aufsteigt, heißt λάθοι. Was kann jemand leichter feststellen als dies: λανθάνω, aor έλαθον, bedeute: ich bleibe verborgen? Gleichwohl vermögen wir es kaum noch, unmittelbar in die Weise zurückzufinden, nach der dieses Wort griechisch spricht.
Homer erzählt (Od. VIII, 83 ff.), wie Odysseus beim ernsten sowohl wie beim heiteren Lied des Sängers Demodokos im Palast des Phäakenkönigs jedesmal sein Haupt verhüllt und, so von den Anwesenden unbemerkt, weint. Vers 93 lautet: ενθ' αλλους μέν πάντας έλάνθανε δάκρυα λείβων. Wir übersetzen nach dem Geist unserer Sprache richtig: »alsdann vergoß er Tränen, ohne daß alle anderenc es merkten.« Die Ubersetzung von Voß kommt dem griechischen Sagen näher, weil sie das tragende Zeitwort έλάνθανε in die deutsche Fassung übernimmt: »Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne«d. Doch έλάνθανε heißt nicht transitiv »er verbarg«, sondern »er blieb verborgen« — als
b was ist dies? das Ereignis? c »die anderen alle« d Jetzt Schadewaldt: »Da blieb es (er?) allen anderen verborgen, wie er Tränen weinte.« [s. Nachwort]