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Aletheia (Heraklit, Fragment 16)

        Weil das historische Verrechnen der Auslegungen das fragende 
        Gespräch mit dem Denker schon verlassen, vermutlich sich nie 
        darauf eingelassen hat.
        Das jeweils Andere jeder gesprächsweisen Deutung des 
        Gedachten ist das Zeichen einer ungesagten Fülle dessenb, was auch 
        Heraklit seihst nur auf dem Weg der ihm gewährten Hinblicke 
        zu sagen vermochte. Der objektiv richtigen Lehre des Heraklit 
        nachjagen zu wollen, ist ein Vorhaben, das sich der heilsamen 
        Gefahr entzieht, von der Wahrheit eines Denkens betroffen zu 
        werden.
        Die folgenden Bemerkungen führen zu keinem Ergebnis. Sie 
        zeigen in das Ereignis.
        Heraklits Spruch ist eine Frage. Das Wort, worin sie sich im 
        Sinne des τέλος be-endet, nennt jenes, von woher das Fragen 
        beginnt. Es ist der Bereich, worin sich das Denken bewegt. Das 
        Wort, in das die Frage aufsteigt, heißt λάθοι. Was kann jemand 
        leichter feststellen als dies: λανθάνω, aor έλαθον, bedeute: ich bleibe 
        verborgen? Gleichwohl vermögen wir es kaum noch, unmittelbar 
        in die Weise zurückzufinden, nach der dieses Wort griechisch 
        spricht.
        Homer erzählt (Od. VIII, 83 ff.), wie Odysseus beim ernsten 
        sowohl wie beim heiteren Lied des Sängers Demodokos im Palast 
        des Phäakenkönigs jedesmal sein Haupt verhüllt und, so von den 
        Anwesenden unbemerkt, weint. Vers 93 lautet: ενθ' αλλους μέν 
        πάντας έλάνθανε δάκρυα λείβων. Wir übersetzen nach dem Geist 
        unserer Sprache richtig: »alsdann vergoß er Tränen, ohne daß 
        alle anderenc es merkten.« Die Ubersetzung von Voß kommt dem 
        griechischen Sagen näher, weil sie das tragende Zeitwort 
        έλάνθανε in die deutsche Fassung übernimmt: »Allen übrigen 
        Gästen verbarg er die stürzende Träne«d. Doch έλάνθανε heißt 
        nicht transitiv »er verbarg«, sondern »er blieb verborgen« — als
        b was ist dies? das Ereignis?
        c »die anderen alle«
        d Jetzt Schadewaldt: »Da blieb es (er?) allen anderen verborgen, wie er Tränen 
        weinte.« [s. Nachwort]

Martin Heidegger (GA 7) Vorträge und Aufsätze