Die Grundfrage nach dem Sein selbst

Martin Heidegger


Auf Grund meiner eigenen philosophischen Entwicklung, die ihren Ausgang nahm bei einer schon am Gymnasium begonnenen und wieder fortgesetzten Beschäftigung mit Aristoteles, war für mich die Frage ri To 8v immer die philosophische Leitfrage geblieben.

Im Zusammenhang der immer mehr sich klärenden Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie im ganzen erkannte ich eines Tages, daß im Anfang der abenländischen Philosophie und demgemäß auch in der gesamten nachfolgenden Philosophie zwar die Frage leitend war: Was ist das Seiende als solches, daß aber nie gefragt wurde: Was ist das Sein selbst und worin gründet und besteht die Offenbarkeit des Seins und seines Verhältnisses zum Menschen.

Erst durch die Begegnung mit Husserl, dessen Schriften ich natürlich schon vorher kannte, aber eben nur gelesen hatte wie andere philosophische Schriften, gelangte ich in ein lebendiges und fruchtbares Verhältnis zum wirklichen Vollzug des phänomenologischen Fragens und Beschreibens.

So wurde es mir erst möglich, die mich eigentlich bewegende Grundfrage nach dem Sein selbst philosophisch zu entwickeln.

Dabei stand ich von Anfang an und stets außerhalb der philosophischen Position Husserls im Sinne einer transzendentalen Philosophie des Bewußtseins.

Woher kommt es, daß man Sein und Zeit immer nur als eine Art phänomenologischer Anthropologie interpretiert oder als eine Phänomenologie des natürlichen Weltbewußtseins?

Daß in dem Teil von Sein und Zeit, der veröffentlicht ist, thematisch von menschlichem Dasein gehandelt wird, ist keine Frage. Aber eine noch wichtigere Frage ist: weshalb denn und in welcher Absicht nach dem menschlichen Dasein und dessen Sein (d. h. nach der Existenz) im Sinne der Zeitlichkeit des Daseins gefragt wird? Es handelt sich ganz und gar nicht um eine Ontologie des Menschen im Sinne einer besonderen eingeschränkten Teildisziplin innerhalb einer allgemeinen Ontologie—eine solche wird überhaupt nicht beabsichtigt, sondern, sofern überhaupt von Ontologie die Rede ist, handelt es sich um eine Fundamentalontologie, d. h. traditionell gesprochen um eine Grundlegung der Ontologie überhaupt, und damit auch erst um eine Grundlegung der allge_meinen Ontologie. Denn die Frage ist, streng gedacht, überhaupt keine ontologische mehr, wenn man unter Ontologie versteht die allgemeine und die spezielle Frage nach dem Sein des Seienden und seiner Bereiche, nicht nach dem Sein des Seienden, deutlicher gesprochen, nicht nach dem Seienden hinsichtlich seines Seins, dessen «Sinn» als schon feststehend und ungefragt überall seit Parmenides bis zu Nietzsche vorausgesetzt wird, sondern nach dem Sein selbst und d. h. zugleich nach der Offenbarkeit und Lichtung des Seins (nicht des Seienden) ist die einzige Frage.

Der Titel für diese Frage lautet in Sein und Zeit die Frage nach dem Sinn von Sein (S. 1) - und Sinn (S. 151, "u. S. 323"-J. Beaufret), kann man kurz sagen, ist der Bereich der Unverborgenheit oder Lichtung (Verstehbarkeit), worin erst alles Verstehen, d. h. Entwerfen (ins Offene bringen) möglich ist.

Die Frage in Sein und Zeit geht einzig nach der Wahrheit des Seins, nicht nach dem Sein des Seienden, also nicht mehr nach einer Ontologie, weder einer allgemeinen noch einer speziellen.

Weil ich aber früh erkannte, daß bei den Griechen, ohne daß sie darüber nachdachten, das Sein als Anwesenheit (d. h. aus der Zeit) bestimmt wurde, ergab sich mir der entscheidende Wink, daß das Sein in irgendeiner verborgenen Weise in der Lichtung der Zeit steht.

Also muß, wenn nach der Wahrheit des Seins gefragt wird (d. h. nach der Lichtung des Seins), die Frage gestellt werden nach Sein und Zeit-und weil nun der Mensch in einer ausgezeichneten Beziehung zum Sein steht, d.h. in der Lichtung des Seins, die in verborgener Weise die Zeit selbst ist, muß nach dem ursprünglichen Verhältnis der Zeit zum Wesen des Menschen gefragt werden. Deshalb wird im Beginn von Sein und Zeit von der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins gehandelt.

Alle diese Fragen nach der Zeitlichkeit des Menschen, einzig orientiert an der Frage nach dem Sinn von Sein, sind z.B. einem Denker wie Kierkegaard vollständig fremd, wie sie überhaupt in der ganzen bisherigen Philosophie unbekannt und auch jetzt noch nicht trotz Sein und Zeit im geringsten verstanden sind.


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Ich möchte hier etwas Persönliches bemerken: daß es sich bei diesem Denken im Sinne der Frage nach der Wahrheit des Seins selbst ganz und gar nicht um eine besondere Leistung oder einzigartige Entdeckung eines einzelnen Menschen handelt, sondern daß in dieser Frage selbst das Sein und sein Geheimnis den Menschen der Erde in seiner äußersten Not, d.h., wie ich es nenne, in der Vergessenheit des Seins anruft und zur Besinnung nötigt. Damit ein Mensch dieser Besinnung dieser Frage auch nur einigermaßen gewachsen sein kann, ist vielleicht ein Schweigen durch zwei oder mehrere Jahrzehnte hindurch notwendig.


* Der hier wiedergegebene Text wurde Jean Beaufret im September 1946 während seines ersten Treffens mit Martin Heidegger in Todtnauberg (Schwarzwald) als Antwort auf mehrere Fragen diktiert, die sich Jean Beaufret bezüglich des Verfassers von "Sein und Zeit" stellte.

Obwohl Jean Beaufret bereits seit einigen Jahren versuchte, Husserl und Heidegger zu entziffern, kannte Heidegger, wie dies ein Brief vom 23. November 1945 bezeugt, den französischen Philosophen nur durch zwei seiner Aufsatze, erkannte in ihm jedoch sogleich einen Gesprächspartner, der ein wachsames Ohr für seinen Denkweg hatte.

Ihr entscheidendes Treffen im September 1946, vor allem aber der im Dezember desselben Jahres an Jean Beaufret gerichtete "Brief über den Humanismus" liess einen fruchtbaren Dialog' entstehen, der ununterbrochen bis zum Hinscheiden Heideggers im Jahre 1976 währte.

Die Bedeutung dieses Textes Heideggers liegt insbesondere darin, daß er an die Frage Heideggers erinnert, wie sie in "Sein und Zeit" in Richtung auf den Sinn des Seins gestellt und entwickelt ist · eine Frage, die unablässig immer fragender wiederholt wurde; ihre hier wiedergegebene Darlegung stellt einen Schritt auf den Weg dieses Fragens dar.

Jean Beaufret stellte diesen Text am 29. Oktober 1976 als Einleitung des Seminars vor, das im Winter 1976 - 1977 im Maisan des Lettres (Paris) durchgeführt wurde.

Philippe Clidière



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