Martin Heidegger
Nicht nach dem Tod, sondern durch den Tod erscheinen die Götter. Durch den Tod — will sagen: nicht durch den Vorgang des Ablebens, sondern dadurch, daß der Tod in das Dasein hereinsteht. So offenbart sich das große Nicht in seiner Zugehörigkeit zum Sein als Verborgenes — Lichtung und Verbergung des Seins in seiner Nichtigkeit geschehen so; diese Nichtigkeit meint keineswegs die Nichtswürdigkeit des Seins, sondern das Gegenteil — die höchste in sich gegenwendige Macht des Seins selbst.
Und weil der Tod in das Da-s.ein hereinsteht, dieses aber das Menschsein begründet, ursprünglicher und weiter als dieses ist, weil die Stätte und der Grund der Seinsereignung, deshalb offenbart der so wesende Tod nicht nur und nicht zuerst das Aufhören des Menschseins, sondern umgekehrt in zwiefacher Hinsicht: die Beständigkeit des Seins und zwar als des in sich Gegenwendigen, das keine Überhöhung eines Gegen-teils gegen den anderen duldet, sondern in der Widerwendigkeit selbst sich ereignet.
Das so gegründete Erscheinen der Götter jedoch kann hier nicht gemeint sein als ein Trost und eine Zuflucht, sondern als der Jubel und Schrecken des Ereignisses selbst. Dieses Ereignis ist das aus diesem Gründen und Abgründen stimmende; der Mensch erhascht nur als Mensch Fetzen dieser Stimmung — oder er wird von solchen befallen und gefangen, wenn er nicht inständlich wird als Da-sein und so ~us dem Gründen die Grund-stimmungen zu bestehen vermag.
Aber die Einheit dieser Grundstimmungen ist jene Art Einheit des Gründens, die sich in sich selbst zurück breitet und durch solche in den Grund gehende Ausbreitsamkeit die verborgene Fülle des Grundes entfaltet.
Die Einheit dieser Grundstimmungen öffnet und verschließt in Einem zugleich das Furchtbare und das Fruchtbare, so daß das Eine das Andere ist.
Die Furchtbarkeit des Da und seine Fruchtbarkeit — Ausgang und Boden aller Verklärung und damit der Geschichte — Angang und Meer aller Bestürzung und Nähe des Sturzes — das Fruchtbare er-langt und behütet das Furchtbare — ihre Einheit ist der Fug des Ereignisses. Furchtbarkeit und Fruchtbarkeit (F und F) gehören zum Wesen der Wahrheit und nur deshalb kann ihre Grundgestalt die Schönheit werden als die berückende Entrückung.
Wie Furchtbarkeit und Fruchtbarkeit auf die Inständlichkeit gegründet und wie diese als Verhaltenheit der wesenden Einheit von Furchtbarkeit und Fruchtbarkeit das Ereignis bereitet — wer vermag dieses werkend zu sagen?
Die Urstimmung als die Innigkeit von Jubel und Schrecken ist der Wesensgrund der Schönheit. Der Schrecken ist als höchste und reinste Befremdung (nicht als grober und wüster Terror) das Berückende, wodurch alles anders wird, denn sonst — das Sonstige der Gewöhnlichkeit und Üblichkeit wird erschüttert.
Der Jubel aber (nicht die leere und oberflächliche lärmende Ausgelassenheit) ist das Entrückende, wodurch über das in der Befremdung erst als solches erscheinende Seiende hinweg die höchsten Möglichkeiten des Verklärten aufleuchten.
Die Berückung öffnet als Befremdung das Ab-gründige des Da-seins; der Jubel enthüllt als Verklärung das Gründende; beides in einem ist ursprünglich die Ver-rückung — das meint, jene Erschütterung im annoch als solchem verborgenen Seienden, in der die Lichtung des Da und damit zugleich die Verbergung des darin erscheinenden Seienden geschieht.
Die Einheit jener Berückung und Entrückung ist das Wesen der Schönheit; die W esung dieses Wesens aber ist das ursprünglichste Geschehnis der Wahrheit selbst, — diese jedoch begriffen als Lichtung und Verbergung des Seins selbst; dieses ist der Riß, der Sein als solches aufreißt und zwar nicht beliebig und zufällig, sondern in der wesentlichen Zerklüftung [(vgl. das Manuskript darüber!)1, wo die reichen Gestalten der Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit, Zufälligkeit, Freiheit, das Was und das Daß, das Ja und Nein in der Urstimmung entspringen und sich wechselweise zurufen. (Gegenüber diesem Ansatz bleibt alle „Modalitäten“ lehre jeglicher „Ontologie“ im Abgeleiteten und Äußeren stehen und keine „Dialektik“ hilft weiter, solange diese „Modalitäten“ weder in ihrem geschichtlichen Ursprung begriffen noch gar in ihrem Wesensursprung aus dem Sein und seiner Wahrheit enthüllt sind. Wird aber das „Sein“ nur und immer wieder nur als der „generelle“ Begriff genommen, dann ist jeder Schritt in den Ursprung versperrt und alle „Ontologie“ ist Spiegelfechterei mit Scheinbegriffen; das gilt auch von der Gegnerschaft gegen die „Ontologie“, sofern sie nur „Nein“ dazu sagt- sie also voraussetzt und in Wahrheit doch ständig benutzt, wenn auch veräußerlicht zu einem „Apparat“ (Jaspers))].
Aber nun ist es ein Rätsel, warum und wie Da-sein bis zur Stunde verborgen bleiben konnte und wie es dennoch in Vorgestalten und Mißgestalten (als verschiedene Auslegungen des Menschen und seiner Vermögen — νοῦς — ψυχή — anima, animus, „Subjekt“, Bewußtsein, Vernunft- Geist- Leben — Ich — Wir —) eine entsprechende Wahrheit über das Seiende als solches und deren Veräußerlichung erwirken mußte.
Auch wir werden nicht glauben dürfen, das Da-sein blank zu haben und sicher zu bestehen; denn dieses widerstöße seinem innersten Wesen. Im Gegenteil — die Grunderfahrung des Ereignisses — der Wesung des Seins — ist zwar eine unvergleichbar andere als die jeder Metaphysik bisher — und sie läßt erst das Da-sein als solches erfahren, aber nur, um jetzt in die reine Einfachheit und volle Ursprünglichkeit des Seins zurück zu wollen.
Wir lernen das Nächste und Allernächste und längst schon Verödete in seiner einfachsten Befremdlichkeit und Verborgenheit wieder erfahren, indem wir zu wissen bekommen: Im Geschehnis des Da-seins — rückt erst das Seiende als Seiendes ins Offene. Aber dieses geschieht nur, indem das Entborgen-Verborgene geborgen wird durch wesentliche Weisen der Bergung; sie vollzieht erst die eigentliche Eröffnung des Seienden.
Die Bergung der Wahrheit als Werksein, Zeugsein, Dingsein, als Machenschaft (Technik — Maschine), als Einrichtung (Staat), als Opfer,'als Sagen des Denkers im höchsten Erschweigen.
Von hier wird — für alle Weisen und Weise der Bergung der Wahrheit (und damit der Wesung des Seins) in je verschiedener Art die Sprache wesentlich - nicht als „Ausdruck“, sondern zurückgenommen in die Urstimmung des Geschehens der Schönheit. Von hier aus wird dann erst begreiflich, warum von früh an die Sprache — miß- und halbverstanden und gedeutet — zum Wesen des Menschen gemacht wurde (ζῷον λόγον ἔχον — λόγος — die Sammlung des Seienden als solchen, die zunächst im Sagen geschieht — aber warum?) (vgl. S.S. 34 Vorlesung).2
Mit dem Adel der Sprache erblüht erst die Durchsichtigkeit des Begriffes und die Schärfe des Sagens und in all dem erst die Bewahrung des Verborgenen als solchen und schließlich das Ereignis selbst. (Dichten und Denken)
Das Ereignis ist der verborgene Ursprung und Quellgrund aller großen Geschichte und der daseinshaften Erwirkung einer geschichtlichen Welt.
Weil es so ist, gehört zur Geschichte die Nichtigkeit- auch in der Ungestalt des Verfalls, des Scheins, des Lärms, der Mißdeutung des Großen in das nur Riesige und Massenhafte, d. h. das schlechthin Kleine, das nur den Allerkleinsten als „groß“ erscheint und für ihren leeren Hunger der Knochen ist.
Weil aber Ereignis nur sich ereignet im Da-sein, deshalb ist das Da-sein ursprünglicher als der Mensch als solcher und somit ursprünglicher als Gemeinschaft von Menschen und selbst als deren leibender Grund — das Volk; ohne Gründung des Da-seins bleibt ein Volk außerhalb der Geschichte im Sinne des Geschichte-schaffens, was mehr ist als Mitmachen oder Sichzurückziehen im Gegebenen.
Gründung des Da-seins bringt alle Nutz-setzung — sie sei noch so umfassend - in die Stellung des Nachgeordneten; alles Nutzdenken ist Gleichmachen Aller und damit die Zerstörung jeder Einzigkeit und damit die Untergrabung jedes eigentlichen und d. h. immer äußersten Bezuges zum Sein. —
Wie aber kommen wir in die Bereitschaft auch nur, das Ereignis zu erfahren und zu gründen?
Der verhaltene Stil vgl. u.a. IV. S. 72ff.3
Das erste ist das Verborgenste und zunächst Unscheinbarste und jeglicher Mißdeutung und Verzerrung notwendig ausgesetzt: der Vor-sprung in das Dasein auf dem Wege der denkerisch sagenden Vorgestaltung; wenn nicht zugleich die große Dichtung zu hilfe kommt — droht eine lange Ohnmacht auch des Denkens, zumal im Zeitalter der völligen Unkraft des Begriffes und der Geltung des Lärms.
Der Vorsprung in das Da-sein in der Vorgestaltung seines Wesens aus dem Ereignis in der Weise der Seinsfrage kann als geschichtliche Erwirkung, d.h. auf den Anfang der Philosophie und ihr Unentfaltetes bezogen, selbst nur als Auseinandersetzung des werdenden anderen Anfangs mit dem ersten und so durch diesen vollzogen werden.
Diese Auseinandersetzung der Anfänge (vgl. S. 14) — des ersten und des anderen, kommenden — diese in diesem Sinne anfängliche Auseinandersetzung ist nicht eine Erörterung von „Sätzen“ und Lehrstücken, sowenig wie ein Aushorchen und Hervorkehren des „psychologisch“ genannten „weltanschaulichen“ Standpunktes - sie ist Auseinander-setzung und damit wechselweise Versetzung in die Grund-stellungen. Das Begreifen dieser in ihren vollzogenen und unvollzogenen Fragen — der sich selbst entfaltende Wettstreit der Leit- und Grundfrage — der Streit um das Wesen der Wahrheit und so der Wesung des Seins.
Dieses Ziel der Vorbereitung der Bereitschaft für das Ereignis ist zwar in allem echten Denken von selbst da — und gerade deshalb kann es nicht das Ziehende und Treibende sein; die Bewegung kommt allein aus der Wesung des Seins selbst- aus dem, wie weit diese als der Streit von Welt und Erde in der Urstimmung des schrecklichen Jubels eröffnet und erstritten wird.
Das Ereignis der Näherung und Flucht d~r Götter und damit deren Wesung und Verwesung selbst hat allein die Eignung und das Geschick- den Fuog-, uns Menschen unserer höchsten Möglichkeit — dem Da-sein — zuzueignen und zu-zufügen und einzufügen in den Fuog selbst, der sich fügt und so als Sein west. -
Da-sein das äußerste Außerhalb wider alles Erfahrene des Seienden als des sonstigen Vorhandenen (ἰδέα).
Der andere Anfang ist als Einsprung in das Da-sein — Gründung des Da-seins (vorbereitend und als Übergang in der Weise einer „Metaphysik des Daseins“ und „Fundamentalontologie“) so sehr wider allen „Nihilismus“ im gewöhnlichen Sinne, daß freilich der gewöhnliche Blick nicht sieht, was hier gedacht wird.
Hier wird der Mensch — über alle bisherige Erklärung und Herleitung hinweg - erfahren als inständlich im Sein (nicht nur und niemals als vorhanden unter Seiendem als Vorhandenem); aber diese Inständlichkeit des Menschen, wodurch er Da-sein mit übernimmt, ist als solche des Menschen immer und notwendig gemäß der Nichtigkeit des Seins selbst zuerst dieser verfallen und daher flüchtig — so taumelt der Mensch im Flüchtigen und was kann er da noch anderes als das Beständige und Anwesende allein für das Seiende zu erklären, ohne sich auch hier und gerade hier noch auf das Sein und dessen „Zeit“ zu besinnen, d. h. den Grund und Abgrund des „Da“.
Die Flüchtigkeit — aber nicht zunächst die christliche Vergänglichkeit, sondern als Abgründigkeit des Gähnenden χάος — ist die Vorauserfahrung für ἀλήθεια und οὐσία — παρεόν.
Der Mensch kommt daher — auch als geschichtlicher — nicht unmittelbar und mit einem Schlag und Wurf gesammelt in das Eigentum des Seins zu stehen — er bleibt außerhalb und sieht es Aufgehen — φύσις — und hat es schließlich nur noch als Gesichtetes — ἰδέα.
Sammlung und Eigentum des Seins im Da-sein werden erst aus ursprünglicher Erfahrung des Ereignisses, wodurch der Mensch erst sich als einem Selbst zu-geeignet wird. Die Zu-eignung an ihn selbst als den Gründer des ihn selbst erst tragenden Da-seins geht in eins mit dem Schrecken der äußersten Entfremdung und Befremdung, weil nur so der Jubel der Entrückung in das Sein die Stätte und Notwendigkeit des Aufklangs haben kann.
Was heißt demnach, der Mensch ist hineingehalten in das Nichts? Wo ist das geringste Anzeichen dafür, dies sei gemeint in dem Sinne: alles ist Nichts und Leer und Umsonst und dies sei das Ziel des Menschen? Von all dem das genaue Gegenteil — oder wahrer — jenseits dieser äußerlichen Zielbestimmung für den Menschen als eines vorgeblich schon Bekannten bewegt sich alles Fragen.
Der Mensch ist hineingehalten in das Nichts — heißt, er gründet im Da-sein, als welches das Sein in seiner Widerwendigkeit zur Wahrheit seiner Wesung bringt. Allerdings ist hier im Entwurf Da-sein vorausgenommen — es ist da nichts beschrieben und als vorhanden behauptet — es ist in allem denkerisch gedacht und gefragt und daher nur im entsprechenden Nach-denken begreiflich.
Menschsein heißt da, in der Möglichkeit der äußersten Befremdung stehen - aber zugleich auch in der Möglichkeit der nächsten und leichtesten Verflüchtigung ins Flüchtige, Greifliche und Betreibliche.
Die äußerste Befremdung ist der Zeit-Raum, in dem das Sein in seiner Einzigkeit und Eigentümlichkeit als das Ereignis aufscheint und sich zugleich an das Unbestreitbare seines verborgenen Wesens verschenkt.
Nur wo Da-sein und höchste Inständigkeit im Sein, nur da ist die ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts in seiner Zugehörigkeit zum Sein selbst; nur wo Da-sein, ist die höchste Notwendigkeit der einfachsten Freiheit des Spiels im Streit des Seins als Ereignis.
Vgl. das Da-sein als die Unter-brechung des χάος. — (Manuskript Dasein)4
Die Auseinandersetzung der Anfänge
(vgl. oben S. 12)
in „Sein und Zeit“ als „Destruktion“ gefaßt. Trotz der dortigen Darstellung ist das im „destruktiven“ — zerstörerischen Sinne verstanden worden.
Die Auseinandersetzung schließt in sich das Abtragen der herkömmlichen Auslegung; aber was da zutage kommen soll und kann, zeigt sich nicht von selbst als der etwa noch verbliebene Rest, der von der bisherigen Auslegung nicht angegriffen wurde; das durch die Abtragung zu Befreiende kommt selbst erst zum Stehen, wenn es in der Auseinander-setzung in seine eigene Fragekraft und Fragebewältigung der Leitfrage zurückgesetzt wird. Die Auseinandersetzung ist so die Gegeneinander- setzung der metaphysischen Grundstellungen nach allen wesentlichen Richtungen des Leitfragengefüges, wobei immer zu unterscheiden ist, was innerhalb dieses Gefüges eigens verfolgt und bewältigt und was nicht ergriffen wurde, aber doch werden mußte in irgendeiner unkenntlichen Gestalt, weil es zum Gefüge der Frage selbst gehört.
1 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt a.M. 2., durchgesehene Auflage 1994. 127., 156., 157., 158., 159. Abschnitt.
2 M. Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1934. Gesamtausgabe Bd. 38. Hrsg. v. Günter Seubold. Frankfurt a.M.1998.
3 Überlegungen IV. Zur Veröffentlichung vorgesehen in: Überlegungen A. Gesamtausgabe Ed. 94.
4 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65, s. 307-326.