Da-sein

Sein und Zeit

Ereignis

Martin Heidegger

1.

„Sein und Zeit“

Der hier übernommene Zwiespalt ist: einmal die Frage nach der Wahrheit des Seins (nicht nach der Seiendheit des Seienden) in ihrer ganzen' Befremdlichkeit inmitten der metaphysischen Überlieferung und in deren Sprache erstmals zu fragen und festzuhalten; zugleich aber gemäß dem Bezug des Seins zum Menschen das Menschenwesen nicht als ζῷον, sondern aus der Gestimmtheit vom Sein her in seinem Grunde als Da-sein erfahrbar zu machen und das „menschliche Da-sein“ in einer geschichtlichen Augenblicklichkeit erfahrbar zu machen.

Hier sind die Mißdeutungen unvermeidlich - aber auch jetzt noch müssen sie wie in den vergangenen fünfzehn Jahren getragen werden, weil ja der Grundriß des Denkens doch entschieden ist - bei allen Mängeln der Ausführung die Mißdeutungen auf „Ontologie“, auf Existenzphilosophie, auf Anthropologie; dann das Herausrechnen eines Ungenügens in bezug auf diese in Wahrheit ungemäßen Maße.


2.

Die „Zeit“

ist in „Sein und Zeit“ nicht das Letzte, sondern das Nächste des Unterwegs zur Wahrheit des Seyns, welches Seyn das Seyn der Wahrheit ist und welches beides in solcher Kehre zurückkehrt in das Ereignis.

Die Überwindung ereignet sich in diesem Übergang von der Seiendheit zum Sein als solchem und d.h. zur Wahrheit des Seins.


Die Sorge

ist nicht Notdurft und Leid, sondern Sorge „des“ Seyns - die Rückung seiner Würde in die Fragwürdigkeit.


3.

Von „Sein und Zeit“ zum Ereignis

„Zeit“ ist ekstatisch begriffen, der Vorname für die Wahrheit des Seins. Wesentlich ist die Einheit des ekstatischen Wesens, die nur durch eine entschiedene Hervorhebung der Zukunft und der Gewesenheit überhaupt sichtbar gemacht werden kann. Doch wäre es ein Mißverständnis, wollte man in der Betonung der Zukunft, wiederum nur metaphysisch denkend, eine Herabsetzung der beiden anderen Ekstasen sehen.

Gewiß tritt für die ersten Schritte in „Sein und Zeit“ die Enthüllung des ekstatischen Wesens in den Vordergrund; sie hat aber nur die Absicht, die ekstatische Einheit selbst als die Offenheit des Inzwischen erfahrbar zu machen und den Bezug zur Wahrheit des Seins zu erlangen. lnsgleichen ist die Zeitigung der Zeit ekstatisch zu denken als die Wesung der Lichtung des Seins. Überall mengt sich der gewöhnliche Zeitbegriff in das Denken ein; welcher Mißstand erst überwunden wird, wenn die Frage zu dem Abschnitt „Zeit und Sein“ gelangt ist und alles aus der Wahrheit des Seyns entfaltet wird. Das anfängliche Wesen der Kehre ist des Ereignis.


4.

„Sein und Zeit“

Das Wesen der Zeit ist nichts Zeitliches, aber auch nicht das Ewige. Die Wahrheit der Zeit, die die Wahrheit des Ortes einschließt, ist das Wesen der Wahrheit selbst.


5.

„Sein und Zeit“

Zeit - der Durchgang zur Wahrheit des Seyns. Nicht nur die Zeit im Sinne der Metaphysik, sondern die Zeitlichkeit selbst: als Zeit-Raum sind, wenn man so will, überwunden. Aber nicht zugunsten eines Zeit-losen, sondern Zeit-gründenden Anfangs.


6.

„Sein und Zeit“

keine „Beschreibung“ der Situation des Menschen, und wenn „Beschreibung“, dann Beschriftung als geworfener Entwurf.


7.

„Sein und Zeit“

Diejenigen, die „Sein und Zeit“ am heftigsten berannt haben und widerlegt zu haben glauben, versichern auch immer am lautesten, die Abhandlung sei in einer ganz unverständlichen Sprache geschrieben. Wie kommen dann aber diese selbstbewußten Widerleger dazu, überhaupt von „Sein und Zeit“ etwas zu verstehen und das dort Gesagte gar noch besser zu verstehen, da sie es doch widerlegten.

Man beschäftigt sich mit der Nachrechnung von Äquivokationen und fragt sich nie, ob vielleicht nicht die Mehrdeutigkeit der Grundworte notwendig sei und warum sie das sei.


8.

„Sein und Zeit“ und die Metaphysik

Je nach dem „Metaphysik“ verstanden wird, entscheidet sich die Frage, ob von „Sein und Zeit“ aus eine Metaphysik möglich sei und überhaupt erfragt werden könne.

Weshalb bleibt der „zweite Band“ aus? Nicht, weil es vom bisher Gesagten (Veröffentlichten) nicht weiter geht und alles in „Anthropologie“ sich aufgelöst hat, sondern weil gerade das bisher Veröffentlichte nicht genügt für das Folgende: die Erfahrung des Seyns aus dem Seyn.

Meta-Metaphysik

Seiendes - Sein - Wahrheit des Seyns - Seyn der Wahrheit.


9.

Die Seinserfahrung und „Sein und Zeit“

Die Erfahrung der Wahrheit des Seyns und nur sie umschließt, gründet und weckt auch erst die Erfahrung des Da-seins.

Diese Er-fahrung ist der Boden des Absprungs des Entwurfs des Menschseins auf das Da-sein; so zunächst entworfen und im Entwurf gegeben: „das menschliche Dasein“; dieser Titel besagt aber in der geläufigen Sprache etwas ganz anderes: das Vorhandensein des Menschen.

Nun galt es, das so entworfene Da-sein selbst zum Erscheinen und zur Erfahrung zu bringen. Bei dieser Bemühung entsteht der Irrweg und das notwendig der „Phänomenologie“. Sie ist gegenüber dem sonst bekannten „philosophischen Denken“ der einzige Weg der „Aufweisung“, die freilich in „Sein und Zeit“ sogleich, dem Entwurf aus dem Seyn gemäß, „hermeneutisch“ verstanden wird. Echt an der Zuflucht zur Phänomenologie ist die Bindung in das Erfahren und in das Innehalten der Nähe zum Seyn selbst, über das nichts gesagt ist.

Unecht ist der Anspruch der „Wissenschaftlichkeit“, sofern darunter „Wissenschaft“ als „Forschung“ verstanden wird.

Unzureichend ist die wenngleich gewandelte, vom Da-sein (nicht „Bewußtsein“ und Subjekt) her bestimmte „transzendentale Fragestellung“.

So bringt sich das Vorgehen und „Sein und Zeit“ selbst vor eine Schranke, die das Fragen einschränkt auf die Wahrheit des Seyns als Bedingung der Offenheit des Seyns. Aber das „Bedingen“ ist die Wesung des Seyns selbst, die nur erfahrbar bleibt in ihrer Anfänglichkeit, wenn das Fragen nach dem Bedingenden unterbunden ist. Von dieser Fragestellung aus wäre stets noch ein Weg zur „Metaphysik“ möglich, wenn man darunter die Erklärung des Seienden aus dem Sein versteht und die so geleitete Bestimmung des Seienden als solchen im Ganzen.

Was aber nicht möglich ist, ist gerade das einzig in „Sein und Zeit“ Erfragte und Gesuchte, das Sagen des Seyns selbst. Dieses Gesuchte ist zugleich die Überwindung der Metaphysik; das Suchen selbst ist schon bestimmt aus der Geschichte dieser Überwindung, die mit diesem Fragen zuerst in die Erfahrung tritt.


10.

„Sein und Zeit“ und die Seinserfahrung

Die „Zeitlichkeit des Daseins“ wird sichtbar gemacht, um von ihr aus zur Temporalität des Seins (nicht nur des „Daseins“) zu gelangen. Die „Temporalität“ west im Zeit-turn der „Zeit“, welches Zeit-turn der Grund der Zeitlichkeit des Da-seins ist, in welcher Zeitlichkeit erst die gewöhnlich bekannte, gewohnte „Zeit“ zu erscheinen vermag. Diese „Zeit“ aber verhüllt das seynsgeschichtliche Wesen der Zeit, das Zeit-turn, das selbst in den Zeit-Raum, d.h. in die „Lichtung“ des Da als die Er-eignung des Seyns aus der Verwindung in den Anfang gehört.

Durch die gesonderte und bloße Darstellung der 1. Hälfte von „Sein und Zeit“ entsteht der Schein, als sei alles auf den Menschen gestellt und nur auf ihn gedacht; während in Wahrheit alles gegenteilig ist: die Überwindung des animal rationale durch das Dasein, die Gründung des Daseins in das Seyn und seine Wahrheit.