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nicht vergeht und als Unvergangenes der dagewesenen Welt für eine Gegenwart »historisch« vorfindlich wird.

Noch vorhandene Überreste, Denkmäler, Berichte sind mögliches »Material« für die konkrete Erschließung des dagewesenen Daseins. Zu historischem Material kann dergleichen nur werden, weil es seiner eigenen Seinsart nach welt-geschichtlichen Charakter hat. Und es wird Material erst dadurch, daß es im vorhinein hinsichtlich seiner Innerweltlichkeit verstanden ist. Die schon entworfene Welt bestimmt sich auf dem Wege der Interpretation des weltgeschichtlichen, »erhaltenen« Materials. Die Beschaffung, Sichtung und Sicherung des Materials bringt nicht erst den Rückgang zur »Vergangenheit« in Gang, sondern setzt das geschichtliche Sein zum dagewesenen Dasein, das heißt die Geschichtlichkeit der Existenz des Historikers schon voraus. Diese fundiert existenzial die Historie als Wissenschaft bis in die unscheinbarsten, »handwerklichen« Veranstaltungen1.

Wenn die Historie dergestalt in der Geschichtlichkeit wurzelt, dann muß sich von hier aus auch bestimmen lassen, was »eigentlich« Gegenstand der Historie ist. Die Umgrenzung des ursprünglichen Themas der Historie wird sich in Anmessung an die eigentliche Geschichtlichkeit und die ihr zugehörige Erschließung des Dagewesenen, die Wiederholung, vollziehen müssen. Diese versteht dagewesenes Dasein in seiner gewesenen eigentlichen Möglichkeit. Die »Geburt« der Historie aus der eigentlichen Geschichtlichkeit bedeutet dann: die primäre Thematisierung des historischen Gegenstandes entwirft dagewesenes Dasein auf seine eigenste Existenzmöglichkeit. Historie soll also das Mögliche zum Thema haben? Steht nicht ihr ganzer »Sinn« einzig nach den »Tatsachen«, nach dem, wie es tatsächlich gewesen ist?

Allein, was bedeutet: Dasein ist »tatsächlich«? Wenn das Dasein »eigentlich« nur wirklich ist in der Existenz, dann konstituiert sich doch seine »Tatsächlichkeit« gerade im entschlossenen Sichentwerfen auf ein gewähltes Seinkönnen. Das »tatsächlich« eigentlich Dagewesene ist dann aber die existenzielle Möglichkeit, in der sich Schicksal, Geschick und Welt-Geschichte faktisch bestimmten. Weil die Existenz je nur als faktisch geworfene ist, wird die Historie die stille Kraft des Möglichen um so eindringlicher erschließen, je einfacher und konkreter sie das In-der-Weltgewesensein aus seiner Möglichkeit her versteht und »nur« darstellt.



1 Zur Konstitution des historischen Verstehens vgl. E. Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie, Festschrift für Joh. Volkelt 1918, S. 357 ff.


Martin Heidegger - Sein Und Zeit