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gehendes begegnen kann. Wir müssen in der Tat ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der »bloßen Stimmung« überlassen. Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches.

Daß auf dem Grunde der primär erschließenden Befindlichkeit die alltägliche Umsicht sich versieht, weitgehend der Täuschung unterliegt, ist, an der Idee einer absoluten »Welt«-erkenntnis gemessen, ein μὴ ὄν. Aber die existenziale Positivität der Täuschbarkeit wird durch solche ontologisch unberechtigten Wertungen völlig verkannt. Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der »Welt« zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist. Theoretisches Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher Einförmigkeit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen Entdeckbaren beschlossen liegt. Aber auch die reinste θεόρία hat nicht alle Stimmung hinter sich gelassen; auch ihrem Hinsehen zeigt sich das nur noch Vorhandene in seinem puren Aussehen lediglich dann, wenn sie es im ruhigen Verweilen bei... in der ῥᾳστῴνη und ῥδιαγνόγή auf sich zukommen lassen kann1. – Man wird die Aufweisung der existenzial-ontologischen Konstitution des erkennenden Bestimmens in der Befindlichkeit des In-der-Welt-seins nicht verwechseln wollen mit einem Versuch, Wissenschaft ontisch dem »Gefühl« auszuliefern.

Innerhalb der Problematik dieser Untersuchung können die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge nicht interpretiert werden. Unter dem Titel der Affekte und Gefühle sind die Phänomene ontisch längst bekannt und in der Philosophie immer schon betrachtet worden. Es ist kein Zufall, daß die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der »Psychologie« abgehandelt ist. Aristoteles untersucht die πάθη im zweiten Buch seiner »Rhetorik«. Diese muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem »Lehrfach« – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden. Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man (vgl. § 27) hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und »macht« sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Er be-


1 Vgl. Aristoteles, Met. A 2, 982 b 22 sqq.


Martin Heidegger - Sein Und Zeit