212
Beschränkung des Seins

[Diese seit dem Aufkommen des Existenzialismus erneut einsetzende Mißdeutung der Frage nach dem Sein ist nur für die Ahnungslosen neu.]

Aber wo ist der eigentliche Nihilismus am Werk? Dort, wo man am geläufigen Seienden klebt und meint, es genüge, das Seiende wie bisher als das Seiende zu nehmen, das es nun einmal ist. Damit weist man aber die Frage nach dem Sein zurück und behandelt das Sein wie ein Nichts (nihil), was es auch in gewisser Weise »ist«, sofern es west. In der Vergessenheit des Seins nur das Seiende betreiben - das ist Nihilismus. Der so verstandene Nihilismus ist erst der Grund für jenen Nihilismus, den Nietzsche im ersten Buch des »Willens zur Macht« herausgestellt hat.

In der Frage nach dem Sein ausdrücklich bis an die Grenze des Nichts gehen und dieses in die Seinsfrage einbeziehen, ist dagegen der erste und einzig fruchtende Schritt zur wahrhaften Uberwindung des Nihilismus.


c) Die Notwendigkeit eines neuen Erfahrens des Seins in
der ganzen Weite seines möglichen Wesens. Verwandlung
des durch die vier Scheidungen eingekreisten Seins zum
umkreisenden Kreis und Grund alles Seienden:
die Unterscheidung von Sein und Seiendem als die
ursprüngliche Scheidung


Daß wir jedoch in der Frage nach dem Sein als dem Frag-würdigsten so weit hinausfragen müssen, das ist es, was uns die Erörterung der vier Scheidungen zeigt. Das, wogegen das Sein eingegrenzt ist, - das Werden, der Schein, das Denken, das Sollen — ist nicht irgendetwas nur Erdachtes. Hier walten Mächte, die das Seiende, seine Eröffnung und Gestaltung, seine Verschließung und Verunstaltung beherrschen und behexen. Das Werden — ist es nichts? Der Schein — ist er nichts? Das Denken ist es nichts? Das Sollen — ist es nichts? Keineswegs.

Wenn jedoch all das, was in den Scheidungen dem Sein gegenüber steht, nicht nichts ist, dann ist es selbst seiend, am


Martin Heidegger (GA 40) Einführung in die Metaphysik