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Ein Vorwort. Brief an Pater William. J. Richardson

Sache wird auch dadurch nicht geholfen, daß man statt »Unverborgenheit« die Übersetzung »Unvergessenheit« vorbringt. Denn die »Vergessenheit« muß griechisch als Entzug in die Verbergung gedacht werden. Entsprechend muß das Gegenphänomen zum Vergessen, das Erinnern, griechisch ausgelegt werden: als Erwerben, Erlangen des Unverborgenen. Platons άνάμνησις der Ideen besagt: das wieder-zu-Gesicht-Bekommen, das Entbergen, nämlich des Seienden in seinem Aussehen.

Mit dem Einblick in die Ά-Λήθεια als Unverborgenheit wurde der Grundzug der οὐσία, des Seins des Seienden erkannt: die Anwesenheit. Aber die wörtliche, d. h. die aus der Sache gedachte Übersetzung spricht erst dann, wenn der Sachgehalt der Sache, hier die Anwesenheit als solche, vor das Denken gebracht wird. Die beunruhigende, ständig wache Frage nach dem Sein als Anwesenheit (Gegenwart) entfaltete sich zur Frage nach dem Sein hinsichtlich seines Zeitcharakters. Dabei zeigte sich alsbald, daß der überlieferte Zeitbegriff nach keiner Hinsicht zureicht, auch nur die Frage nach dem Zeitcharakter der Anwesenheit sachgerecht zu stellen, geschweige denn, sie zu beantworten. Die Zeit wurde in derselben Weise fragwürdig wie das Sein. Die in »Sein und Zeit« gekennzeichnete ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit ist keineswegs schon das der Seinsfrage entsprechende gesuchte Eigenste der Zeit.

Mit der vorläufigen Aufhellung von ἀλήθεια und οὐσία klärten sich in der Folge Sinn und Tragweite des Prinzips der Phänomenologie: »zu den Sachen selbst«. Bei der nicht mehr nur literarischen sondern vollzugsmäßigen Einarbeitung in die Phänomenologie blieb jedoch die durch Brentanos Schrift erweckte Frage nach dem Sein im Blick. Dadurch entstand der Zweifel, ob »die Sache selbst« als das intentionale Bewußtsein oder gar als das transzendentale Ich zu bestimmen sei. Wenn anders die Phänomenologie als das Sichzeigenlassen der Sache selbst die maßgebende Methode der Philosophie bestimmen soll und wenn die Leitfrage der Philosophie sich von alters her in den verschiedensten Gestalten als die Frage nach dem Sein des Seienden durch-


Martin Heidegger (GA 11) Identität und Differenz