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Vorlesung Winter semester 1951/52

        sich dem Denken gegenüber verhört, zumal dann, wenn unmittelbar 
        von den Wissenschaften die Rede ist. Denn wo anders wird 
        von uns zwingender gefordert, daß wir uns den Kopf zerbrechen, 
        als in den Forschungs- und Lehranstalten der wissenschaftlichen 
        Arbeit? Daß Kunst und Wissenschaft, obwohl man sie bei Festreden 
        immer noch zusammen anführt, voneinander durchaus verschieden 
        sind, gesteht jedermann ohne Vorbehalt zu. Wenn dagegen 
        das Denken gegen die Wissenschaften unterschieden und gegen 
        sie abgesetzt wird, hält man dies sogleich für eine Herabsetzung 
        der Wissenschaft. Man befürchtet sogar, das Denken eröffne 
        eine Feindseligkeit gegen die Wissenschaften, trübe den Ernst 
        und störe die Lust an der wissenschaftlichen Arbeit.
        Selbst wenn solche Befürchtungen im Recht wären, was 
        keineswegs der Fall ist, bliebe es auch taktlos und geschmacklos 
        zugleich, an der Stätte, die der Ausbildung in den Wissenschaften 
        dient, gegen die Wissenschaft aufzutreten. Schon der Takt müßte 
        hier alle Polemik verhindern. Allein noch anderes spricht mit. 
        Jede Art von Polemik verfehlt im voraus die Haltung des Denkens. 
        Die Rolle eines Widersachers ist nicht die Rolle des Denkens. 
        Denn ein Denken denkt nur dann, wenn es dem nachgeht, 
        was für eine Sache spricht. Alles abwehrende Sprechen hat hier 
        stets nur den Sinn, die Sache zu schützen. Insoweit auf unserem 
        Weg die Wissenschaften zur Sprache kommen müssen, sprechen 
        wir nicht gegen die Wissenschaften, sondern für sie, nämlich für 
        die Klarheit über ihr Wesen. Darin liegt bereits die Uberzeugung, 
        daß die Wissenschaften in sich etwas positiv Wesentliches sind. 
        Ihr Wesen jedoch ist freilich anderer Art, als man sich das heute 
        noch an unseren Universitäten vorstellen möchte. Es scheint 
        jedenfalls so, als schrecke man noch davor zurück, mit dem 
        erregenden Sachverhalt ernst zu machen, daß die heutigen 
        Wissenschaften in den Bereich des Wesens der modernen Technik gehören 
        und nur dahin. Ich sage, wohlgemerkt, in den Bereich des 
        Wesens der Technik, nicht einfach in die Technik. Noch liegt ein 
        Nebel um das Wesen der modernen Wissenschaft. Dieser Nebel 
        wird jedoch nicht von einzelnen Forschern und Gelehrten innerhalb

Martin Heidegger (GA 8) Was heisst Denken?