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Der Wille zur Macht als Kunst

des Vernehmens, die sich im Durchgang durch den Leib vollziehen«. Wir wissen aber: θέα, das »Blicken« ist auch das höchste Vernehmen, das Erfassen des Seins. Der Blick reicht in die höchste und weiteste Ferne des Seins und zugleich in die nächste, leuchtendste Nähe des Anscheins. Je scheinender, leuchtender der Anschein als solcher vernommen wird, um so leuchtender kommt in ihm das zum Vorschein, wovon er Anschein ist: das Sein. Das Schöne ist seinem eigensten Wesen nach das im sinnlichen Bereich Hervorscheinendste, das Aufglänzendste, derart, daß es als dieses Geleucht zugleich das Sein aufleuchten läßt. Das Sein ist jenes, woran der Mensch seinem Wesen nach im voraus gebunden bleibt, wohin er entrückt ist.

Indem das Schöne das Sein aufleuchten läßt, als Schönes selbst aber das Anziehendste ist, rückt es den Menschen zu gleich durch sich hindurch über sich hinweg zum Sein selbst. Was Platon vom Scheinen durchsichtig in den zwei wesentlichen Worten sagt: ἐκφανέστατον καὶ ἐρασμιώτατον, dies können wir kaum entsprechend geprägt wiedergeben.

Auch die lateinische Übersetzung aus der Zeit der Renaissance verdunkelt hier alles, wenn sie sagt: At vero pulchritudo sola habuit sortem, ut maxime omnium et perspicua sit et amabilis. Platon meint nicht, das Schöne selbst sei als Gegenstand »durchsichtig und liebenswert«; es ist das Leuchtendste und als dieses das Fortziehendste, das Entrückendste.

Aus dem Dargelegten wird das Wesen des Schönen klar, daß und inwiefern es die Rückgewinnung und Bewahrung des Seinsblickes aus dem nächsten Anschein, der leicht in die Vergessenheit bannt, ermöglicht. Unsere Verständigkeit, die φρόνησις, hat, obzwar sie auf das Wesentliche bezogen bleibt, von sich aus kein entsprechendes εἴδωλον, keinen Bereich des Anscheins, der uns das, was sie geben soll, unmittelbar nahebringt und doch zugleich forthebt in das eigentlich zu Verstehende.

Zu 3. Die dritte Frage, die nach dem Verhältnis von Schönheit und Wahrheit fragt, beantwortet sich jetzt von selbst. Zwar


Martin Heidegger (GA 6 I) Nietzsche I